Sternstunde in Feldgrau
MATTSEER DIABELLI SOMMER / ERÖFFNUNG
06/06/18 „Sternstunden“ sind das Motto über dem 18. Mattseer Diabelli Sommer. Die Eröffnung am Dienstag (5.6.) in der Stiftskirche war tatsächlich gleich eine erste Sternstunde, allein schon wegen der Begegnung mit dem Klavierquintett op. 18 von Mieczyslaw Weinberg, dessen 100. Geburtstag im Jahr 2019 gefeiert wird.
Von Heidemarie Klabacher
Sternstunden. Das sind nicht immer fröhliche Stunden. Das Zögern eines Einzelnen hat Auswirkungen auf ganz Europa, desgleichen das Nicht-Zusperren einer kleinen Pforte in der Stadtmauer. Siehe „Die Weltminute von Waterloo“ und „Die Eroberung von Byzanz“. Erst im Vorjahr sind Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“ in einer hervorragenden Neuausgabe im Zsolnay Verlag herausgekommen, als Band 1 einer künftigen „Salzburger Ausgabe“.
„Georg Friedrich Händels Auferstehung“ war keineswegs der (mirakulösen) Genesung vom Schlaganfall geschuldet, sondern jener Stern-Minute, in der der künstlerisch und wirtschaftlich „verlorene“ und „verzweifelte“ Komponist das Libretto vom „Messias“ aufschlug: „Comfort ye“ – „Tröstet Euch“…
Ein wenig vom Gegenteil erzählt das Streichquintett op. 18 des sechsundzwanzigjährigen Mieczyslaw Weinberg. Geschrieben 1944/45 und uraufgeführt am 18. März 1945 – also kaum zwei Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs – erzählt dieses monumentale Meisterwerk im klassischen, wenn auch fünfsätzigen, Aufbau von einem verzweifelt aufbegehrenden, bizarren Tanz auf dem Vulkan.
Der Sohn eines Musikers am jüdischen Theater in Warschau flüchtete mit kaum Zwanzig vor den Nazis in die Sowjetunion und kam über Minsk nach Taschkent, wo er seine erste Sinfonie geschrieben hat, die Schostakowitsch auf den jungen Kollegen aufmerksam und zu dessen Mentor machte. Ab 1943 lebte Mieczyslaw Weinberg in Moskau, wo er wie alle anderen Künstler versuchen musste, es seinem Gewissen ebenso recht zu machen, wie der staatlichen Terrorzensur.
Zum Glück jährt sich Weinbergs Geburtstag. Das Gedenkjahr wird auch in der Stadt Salzburg Begegnungen mit dessen zu Unrecht viel zu wenig gespielten Werk bringen. Man möchte viel mehr wissen über sein Leben, um die Sternstunde datieren zu können, die zu op. 18 geführt hat. Aber es wird keine Stunde, es wird das Zeitalter selbst gewesen sein.
Schon der junge Weinberg weiß, wo er herkommt – als Musiker, als Jude, als Komponist an der Grenze zur Moderne, die er – falls man das nach einem einzigen gehörten Stück so sagen darf – bei aller Radikalität nicht überschritten hat…
Was meinte man da nicht alles zu hören an Zitaten und Anspielungen bei der Aufführung des Streichquintetts op. 18 in der Stiftskirche Mattsee durch Benjamin Schmid und Wonji Kim, Violine, Lily Francis, Viola, Florian Simma, Violoncello und Ariane Haering, Klavier.
Den Lautstärkenregler immer im oberen Bereich – aber mit hochkonzentrierter Bereitschaft zu schnellsten und feinsten Regulierungen nach unten – rissen die fünf Künstler ihr Publikum hinein in besagten atemberaubenden Tanz auf dem Vulkan. Aus der lähmenden Verzweiflung des vierten Satzes, Großteils ein düsteres Unisono zerrissen von rezitativischem Aufbegehren, wäre man ohne Hilfe nicht mehr herausgekommen: Ein Untergang in Feldgrau. Er hätte die vielen frivolen, kämpferischen tänzerischen Momente in den Sätzen vorher beinah vergessen gemacht, hätte das Finale nicht noch einmal die Verzweiflung gebrochen – keineswegs mit Heiterkeit oder auch nur mit Versöhnung, wohl aber mit ungebärdiger Energie.
Eine Referenz-Wiedergabe? Aufwühlender interpretiert kann man sich dieses Meisterwerk nicht wünschen. Das gilt auch für Schumanns Klavierquintett Es-Dur op. 44 – mit Wonji Kim am ersten und Benjamin Schmid am zweiten Geigenpult. Aber dieses muss in der Aufmerksamkeit ein wenig zurückstehen angesichts des so aufregenden Schwesterwerks.
Das Programm des Mattseer Diabelli Sommers im Detail - www.diabellisommer.at
Bilder: dpk-klaba