Der schnelle Tod der Eichhörnchen
IM KINO / WINTER’S BONE
05/04/11 Das Leben ist schwer in den Ozark Mountains, zeigt Debra Granik mit der Verfilmung von Daniel Woodrells Roman „Winter’s Bone“. Das gilt gleicher Maßen für Menschen und Eichhörnchen.
Von Michael Russ
Ree ist 17 Jahre alt und könnte in manchen Gegenden dieser Welt ein unbeschwerter Teenager sein. Aber sie lebt in den Ozark Mountains in Missouri (USA) und dort gehen die Uhren anders. Hinterwäldler kann man die Bewohner der Gegend wohl nennen, sie wohnen in armseligen Holzhäusern, ihre Grundstücke sind mit Gerümpel übersät. Früher lebte man von Schwarzbrennerei und Whiskeyschmuggel. Aber auch Hinterwäldler gehen mit der Zeit, heute kocht man Crack oder Crystal Meth und schmuggelt Kokain.
Auch Rees Vater Jessup Dolly ist Meth-Kocher, dabei hat er sich vom Sheriff erwischen lassen und für die Kaution Haus und Wald verpfändet. Der Mutter ist dieses Leben zu viel geworden, sie hat sich in sich selbst zurückgezogen, sitzt schweigend herum und überlässt es Ree, für sie und die zwei jüngeren Geschwister zu sorgen. Ree ist eine starke junge Frau, sie schafft das irgendwie, bringt dabei vielen Eichhörnchen einen schnellen Tod. Anderes Fleisch können sie sich nämlich nicht leisten.
Aber dann muss alles zurückstehen, denn wenn Jessup nicht zur Gerichtsverhandlung erscheint, verlieren sie das Haus und den kleinen Wald, das heißt kein Dach mehr über dem Kopf und keine Eichhörnchen für den Topf. Ree macht sich auf die Suche, stößt erst auf eine Mauer des Schweigens und dann auf unverhohlene Drohungen. Die Hinterwäldler-Clans haben genaue Vorstellungen von der Rolle einer Frau, sie hat sich unterzuordnen und den Männern zu gehorchen. Eine herumschnüffelnde Frauensperson, die Unruhe in die Gegend bringt, ist in diesem Weltbild nicht vorgesehen und hat mit dem Schlimmsten zu rechnen. Aber Ree bleibt stur.
Jennifer Lawrence als Ree wurde mit Recht für Golden Globe und Oscar für die beste weibliche Nebenrolle nominiert. Sie lebt diese zwiespältige Ree. Einerseits träumt Ree wie so viele Unterprivilegierte in den USA davon, in die Armee zu gehen, weil das die einzige Möglichkeit wäre, in ein besseres Leben zu entkommen. Andererseits fühlt sie sich Land und Leuten verbunden, schließlich sind hier alle weitläufig miteinander verwandt und die Familie ist das Wichtigste. Darum müssen Träume zurückstehen und für Mutter und Geschwister gesorgt werden. Außenstehende, egal ob Sheriff oder Kautionsagent, werden unverhohlen verachtet. Einerseits fühlt sie sich von den Nachbarn geschützt und unterstützt, andererseits hat sie nicht vor, sich mit der ihr zugedachten Rolle als unterwürfige Frau abzufinden. Sie manövriert sich durch, behält ihr Ziel im Auge, obwohl sie weiß, dass sie genauso schnell sterben könnte wie ein Eichhörnchen.
Ebenfalls für den Nebenrollen-Oscar nominiert wurde John Hawkes als Jessups Bruder Teardrop. Teardrop ist ein ausgemergelter, koksender Krimineller, der klare Vorstellungen davon hat, was seinem Bruder zugestoßen ist. Solange er aber die Täter nicht kennt, muss er sich auf keinen Rachfeldzug begeben, der – obwohl Teardrop knallhart und von allen gefürchtet ist – nur letal für ihn enden kann. Darum versucht er Ree zuerst ziemlich handgreiflich von ihrer Suche abzuhalten, hilft ihr aber dann doch. Bei einem nächtlichem Streifzug gesteht ihm Ree, dass sie immer Angst vor ihm hatte. „Weil du klug bist!“, ist seine knappe Antwort.
Brutale Szenen finden hinter geschlossenen Türen oder außerhalb des Blickwinkels statt. (Ausnahme: Abbalgen und Auswaiden der Eichhörnchen) Aber die dichte Atmosphäre macht Winter’s Bone trotzdem zu einem sehr harten Film über eine harte Gesellschaft. Countrymusik bei Familienfesten und Kinderszenen mit kleinen Hunden deuten an, dass es auch Lichtblicke gibt. Wenn man das Kino verlässt, ist man trotzdem froh, nicht im Ozark-County geboren zu sein.