Das zweite, jüngere Ich
FILMKRITIK / THE SUBSTANCE
03/10/24 Barbie, die das vergangene Kinojahr wie kaum eine andere Filmfigur geprägt hat, hatte ihren Aufruf zum Umsturz des Patriarchats und ihre Kritik an den Rollenbildern, mit denen Frauen zu kämpfen haben, noch zuckersüß und (in jeder Hinsicht) gut konsumierbar verpackt. Eine Plastikpuppe kommt auch in The Substance vor.
Von Andreas Öttl
Dieser Film übt auf ungleich dunklere und radikalere Weise Kritik vor allem am Male Gaze und dem Jugendwahn der Gesellschaft übt. Er wird zweifellos für ebenso viele Diskussionen sorgen wie Greta Gerwigs Popkultur-Meilenstein. Die französische Regisseurin Coralie Fargeat hatte bereits 2017 mit ihrem Spielfilmdebüt Revenge für Furore gesorgt, mit dem sie das nicht unbedingt für Progressivität bekannten Rape-Revenge Genre zwar nicht gänzlich unterlaufen, aber doch mit einem weiblichen Blickwinkel versehen hatte.
The Substance beginnt mit einer genialen Einstellung ohne Dialoge: einem Blick aus der Vogelperspektive auf den Walk of Fame in Hollywood. Der Stern, der hier für Elisabeth Sparkle, einem für eine Fitness-Show bekannten Star, verlegt wird, verliert im Laufe der bissigen Montage an Glanz und wird von den Besuchenden zunehmend achtlos behandelt. Diese an sich schon sehr effektive Visualisierung der verblassenden Karriere einer Schauspielerin bekommt in der folgenden Szene ein zusätzliches Gewicht.
Elisabeth Sparkle wird von der mittlerweile 61jährigen Demi Moore verkörpert. Eine Idealbesetzung, denn die einst gefragteste Schauspielerin Hollywoods musste – wie viele ihrer Altersgenossinnen – auch im wirklichen Leben schmerzhaft erfahren, was es bedeutet, von der Traumfabrik fallen gelassen zu werden. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass Elisabeth Sparkle im Film zu „The Substance“ greift – einem Mittel, dass es erlaubt, sein eigenes, jüngeres und makelloseres Ich zu leben. Die einzige Bedingung ist, dass man mit diesem zweiten Ich die verfügbare Lebenszeit im wochenweisen Rhythmus teilen muss. Doch Sue, wie sich die jüngere Version (Margaret Qualley) nennt, hält nicht sehr viel vom Teilen, und so kommt es zunehmend zum Konflikt zwischen den beiden Versionen.
Wie schon ihr Debütfilm ist auch die zweite Arbeit von Coralie Fargeat überaus selbstbewusst inszeniert. Dazu gehört auch, dass die Regisseurin keine Scheu hat, ihre Inspirationen erkennbar zu machen. Der Schnittstil und manche Bilder erinnern etwa deutlich an Darren Aronofskys Requiem for a Dream – allerdings ohne dessen hypnotische Atmosphäre zu erzeugen. Dennoch wirken die Hommagen an Meister wie David Cronenberg und Stanley Kubrick nicht aufgesetzt und die Regisseurin hat jedenfalls auch eine starke eigene Stimme. Im kühnen, sardonischen Finale, das sich vor keinem der filmischen Vorbilder zu verstecken braucht, kommt diese noch einmal voll zum Ausdruck.
The Substance ist ein lauter, brachialer Body-Horrorfilm, bei dem man sich gut vorstellen kann, wie gut er seine Wirkung im Ausnahmezustand von Cannes oder zuletzt bei der Eröffnung des Slash Filmfestivals im ausverkauften Wiener Gartenbaukino entfaltet. Die Bewährungsprobe für einen Film dieser Art ist hingegen ein gewöhnlicher Wochentag im beschaulichen Salzburg in einem an diesem Abend nur spärlich gefüllten Kinosaal. Hier offenbart sich dann doch, dass der Film am besten als wilder Ritt funktioniert. Emotional berührend sind lediglich jene eher realistischen Szenen, bei denen die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwischen Elizabeth Sparkle und Demi Moore verschwimmen. Die diskussionswürdigen Themen des Films werden hingegen etwas plakativ verpackt, aber es ist wohl auch nicht dessen primärer Zweck, die Basis für eine nuancenreiche Auseinandersetzung zu liefern. The Substance hat vielmehr die Wirkung eines (nur durch schwarzen Humor etwas abgeschwächten) Aufschreis, bei dem sich in 140 Filmminuten der gesamte Druck entlädt, den Frauen nicht nur, aber vor allem auch im Showbusiness über viele Jahre erfahren haben.