Die Opernhäuser stehen noch...
TODESFALL / PIERRE BOULEZ
07/01/16 … und das ist gut so. Dieser Meinung war letztlich auch Pierre Boulez, der in seinen „wilden“ jungen Jahren in einem Interview mit dem „Spiegel“ vorgeschlagen hatte, die „Opernhäuser in die Luft zu sprengen“. Es sei die „teuerste Lösung“, aber vielleicht auch die „eleganteste“.
Von Reinhard Kriechbaum
Ein Bonmot mit ernsten Hintergrund. Es ging Boulez damals darum, den Mief des routinierten Repertoiretheaters aus der Oper zu vertreiben. Der viel zitierte Satz fiel im Jahr 1967. Im Sommer zuvor, 1966, hatte Boulez mit „Parsifal“ als Wagner-Dirigent bei den Bayreuther Festspielen debütiert. Dass man ihm und dem Regisseur Patrice Chéreau 1976 den „Jahrhundertring“ am Grünen Hügel anvertraute, sorgte für gewaltigen Rumor nicht nur unter bekennenden Wagnerianern. Gleichwohl wurde die Aufführung, die bis 1980 gezeigt wurde, zu einem Fixposten in der neueren Interpretationsgeschichte. An Chéreaus „Wotan im Frack“ führte alsbald ebenso kein Interpretationsweg mehr vorbei wie an Boulez' analytischer Sicht auf die Partiturt der sich auch manche Mitglieder des Bayreuther Orchesters anfangs nicht recht asbfinden wollten.
Übrigens: Ebenfalls gemeinsam mit Patrice Chéreau entwarf Boulez 1989 ein erstes Konzept für eine „Salle Modulable“ für die Opéra Bastille in Paris: einen innovativen, zukunftsweisenden Raum für das Musiktheater, der den Zuschauer- und den Bühnenbereich über frei konfigurierbare Formen miteinander verbinden sollte. Die Realisierung kam damals aus finanziellen Gründen nicht zustande.
Boulez war „ein Avantgardist mit Blick für die Wurzeln und damit ein Katalysator für Neuerungen“, heißt eys in einem nachruf der „Zeit“zitiert ihn mit dem Satz: „Eine Kultur, die nicht mit ihrer Tradition bricht, die stirbt“.
1960 stand Pierre Boulez zum ersten Mal als Dirigent und Komponist auf dem Programmzettel der Festspiele. Herbert von Karajan saß damals im Publikum, als die „Kontra-Punkte“ von Karlheinz Stockhausen und „Improvisations sur Mallarmé“ von Pierre Boulez erklangen. „Abfallprodukte der Musikgeschichte“ höhnte damals die Kritik.
1992, zum Auftakt der Ära Mortier/Landesmann/Wiesmüller, war Pierre Boulez dann Composer in residence und formte einen Zyklus mit Klassikern des 20. Jahrhunderts: „Der Nenner wäre, wenn ich mich sehr pompös ausdrücke: Ich und die Geschichte, meine Vorgeschichte.“ So erklang im Lehrbauhof als österreichische Erstaufführung „Répons“. Dieses Stück ist im vorigen Sommer, als die Festspiele an Pierre Boulez' neunzigstem Geburtstag erinnerten, wieder aufgeführt worden. Diesem Programmschwerpunkt zu seinen Ehren konnte der seit langem schwer kranke Komponist nicht mehr beiwohnen.
Im Jahr 1992 kam es zu jener denkwürdigen Begegnung mit den Wiener Philharmonikern, die so folgenreich für die Zukunft sein sollte. Boulez leitete von dort an das Orchester regelmäßig nicht nur in Salzburg, sondern auch in Wien, auf Gastspielen und für CD-Aufnahmen. „Die Chemie zwischen Boulez und den Wiener Philharmoniker stimmte ab dem ersten Takt“, heißt es in einer Presseaussendung der festspiele zu seinem Tod. „In nicht weniger als sechs überlangen Proben ließen sich die Philharmoniker ins Boulezsche Universum verführen, hingerissen vom Wissen und der Persönlichkeit des Maestros.“ Der Jubel im Großen Festspielhaus kannte damals keine Grenzen. „Es war der Höhepunkt einer Programmstrategie des neuen Festspieldirektoriums, mit der die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts als gleichberechtigter Bestandteil neben Klassik, Romantik und Alter Musik im Festspiel verankert werden soll“, schrieb damals Gerhard Rohde in der FAZ, „Boulez ließ sich mit voller Absicht und ohne List als Konterbande in das strategische Konzept einschmuggeln. Wenn es heute einen Komponisten gibt, der an einem traditionsbehafteten, in den letzten Jahren immer mehr von kommerziellen Interessen beherrschten Festspielort eine Schlacht für die Moderne schlagen und sogar gewinnen kann, dann konnte dieser nur Pierre Boulez heißen. In zwei Wochen, die er in der Festspielstadt weilte, veränderte Boulez die Salzburger Konzertszene nachhaltig.“
Man engagierte Pierre Boulez auch als Opern-Dirigenten: 1996 leitete er die Aufführungen von Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ in der Regie von Peter Stein. Seither dirigierte Pierre Boulez regelmäßig Konzerte bei den Salzburger Festspielen.
Der Komponist Pierre Boulez: Da erinnerten manche gerne daran, dass der junge Boulez kurz Mathematik studiert hatte, bevor er sich der Musik zuwandte. Als Pianist (in seinen „wilden“ Anfangsjahren) und dann als Dirigent war Boulez auch engagierter Anwalt in eigener Sache, wurde vielleicht deshalb zu einem der Hauptvertreter des Serialismus. Das Berechnete dieser Musikrichtung ist eine Sache, die Emphase durchaus eine andere. So strapaziös im vergangenen Festspielsommer die Aufführung des pianistischen Gesamtwerks von Boulez durch Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich war: Da durfte man auch erleben, wie viel Effektsicherheit auch in diesen aufs Erste sperrig wirkenden Kompositionen steckt.
In die erste Reihe der damaligen Avantgarde hatte sich Pierre Boulez in den späteren fünfziger und beginnenden sechziger Jahren in Darmstadt gearbeitet. Die neuere Musikgeschichte – das darf man ohne Übertreibung sagen – formte er nachhaltig mit, indem er in den siebziger Jahren in Paris das „Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique“ (IRCAM) gründete, das sich der Erforschung der musikalischen Elektronik und Elektroakustik widmet. Bis heute gilt es als kreatives Zentrum der Neuen Musik. Damals gründete Boulez in Paris auch das Ensemble Intercontemporain, ebenfalls nicht wegzudenken aus der Interpretenlisten für neue Musik. Jahrzehntelang setzte Boulez sich für Kollegen wie Daniel Barenboim oder Sir Simon Rattle ein, für den Pianisten Pierre-Laurent Aimard – wie ihm überhaupt der Austausch mit jüngeren und jungen Kollegen bis zuletzt wichtig war. Und: Welcher andere serielle Komponist wäre schon auf die Idee gekommen, mit dem Avantgarde- und Rockmusiker Frank Zappa Projekte zu verwirklichen?
„Wir bewunderten sein Tun, seine Ziele, für die er unbeirrbar einstand, egal ob es sich um kleinere oder grössere Revolutionen handelte“, so der Leiter des Lucerne Festival, Michael Haefliger: „Mein allererster Eindruck von Pierre Boulez waren seine höchst innovativen Programm- und Konzertformate, als er in den Jahren 1971 bis 1977 das New York Philharmonic leitete. Da standen Bach, Schubert, Liszt, Webern, Berg, Strawinsky und eigene Kompositionen neben- und miteinander in Konzertprogrammen, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit. Die scheinbare Buntheit deckte Bezüge auf und motivierte zu neuen Hörerfahrungen, beispielsweise im Format eines 'Rug Concert', das heute noch seinesgleichen sucht und den Blick weit in die Zukunft der modernen Konzertvermittlung richtete.
Pierre Boulez ist am 5. Jänner im Alter von neunzig Jahren in Baden-Baden gestorben.