Die Zeitung und ich sind gemeinsam gewachsen
INTERVIEW / MICHAELA GRÜNDLER
15/02/19 Seit 20 Jahren leitet Michaela Gründler die Salzburger Straßenzeitung Apropos. Kultur versteht sie umfassend: „Erst dann, wenn die Lebensbedürfnisse – Wohnraum, Nahrung, Gesundheit – ausreichend abgedeckt sind, dann ist ein Freiraum für Kultur geschaffen.“ - Hier das aktuelle Apropos- Titelinterview, Chefredakteurin Michaela Gründler im Gespräch mit Christina Repolust, zum Nachlesen.
ChR: Sie sind seit zwanzig Jahre mit der Realität von Obdachlosigkeit, prekären Lebenssituationen und Existenzängsten der Apropos-Verkäufer konfrontiert. Sie lesen privat gerne Mythen und Märchen. Auch Märchenhelden sind nicht auf Rosen gebettet, müssen Prüfungen durchstehen und dürfen Wandlungen erleben: Liegt hier der Grund für Ihr Interesse an Märchen?
Michaela Gründler: Das ist ein interessanter Zusammenhang. Ich mag Märchen sehr gern, meine Beziehung zu dieser literarischen Gattung zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. In meiner Kindheit spielten Märchen eine große Rolle, je älter ich wurde, desto stärker interessierte mich das Verborgene in den Geschichten. Märchen und Mythen helfen dabei, zu wachsen, bringen die archetypischen Seelenanteile von uns Menschen an die Oberfläche. Für mich sind sie eine Art Seelenratgeber, die Weisheiten in angenehm unpädagogischer Form vermitteln.
ChR: Konkret gefragt, mit welchen Märchen sind Sie gewachsen?
Michaela Gründler: Zuerst waren es die Grim’schen Märchen, heute noch lese ich Märchen aus aller Welt, besonders liebe ich die mit starken archetypischen Anteilen. Meine Märchen-Begeisterung habe ich an meine Nichten und Neffen weitergegeben. Als sie kleiner waren, habe ich ihnen mit Begeisterung selbst erfundene Märchen erzählt. Michael Endes Geschichte „Das Traumfresserchen“ war für mich eine wichtige Begleiterin – da geht es um die Angst vor bösen Träumen, die einen nicht einschlafen lassen, bis einem das Traumfresserchen hilft.
ChR: Seit 20 Jahren arbeiten Sie mit und für Menschen, die ihr Leben unter harten Bedingungen – Obdachlosigkeit, Sucht, psychische Erkrankungen – Tag für Tag meistern. Apropos zu verkaufen gibt ihnen Struktur, Anerkennung und Freude. Wie gelingt dieses kleine Wunder Monat für Monat bei den Verkäufer*innen und seit zwei Jahrzehnten bei Ihnen?
Michaela Gründler: Das Traumfresserchen von Michael Ende beruhigt die Aufgebrachten, die Verzweifelten. Das mache ich auch gemeinsam mit meinem Team. Im Unterschied zu anderen Straßenzeitungen in Österreich, bei denen Redaktion und Vertrieb meist räumlich getrennt sind, sind bei uns Redaktion und Zeitungsausgabe Tür an Tür. Das ist herausfordernd, besonders wenn wir in der Endreaktion sind. Aber um nichts in der Welt möchte ich diese Nähe missen. Ich bekomme immer mit, wie es den Einzelnen so geht.
ChR: Ist für Sie der Begriff „Innigkeit“ zu hoch gegriffen, wenn ich damit Ihre Beziehung zu den Verkäufern bezeichne?
Michaela Gründler: Innigkeit ist ein schöner Begriff. Durch Begegnung entsteht Berührung. Nicht nur zwischen den Verkäufern und uns, sondern auch auf der Straße. Unsere Verkäuferinnen und Verkäufer bauen sich ihren Platz auf der Straße auf und schaffen sich somit kleine Beziehungsinseln. Regelmäßig rufen Leser in der Redaktion an und fragen nach, wo denn „ihr“ Verkäufer oder „ihre“ Verkäuferin geblieben sei, ob es ihm bzw. ihr wohl gut gehe. Diese Anrufe zeigen, dass Verkäufer und Kunden eine Beziehungsinsel bilden: Sie sind aufeinander bezogen, viele suchen das Gespräch mit unseren Verkäufern, das ist mehr als der Tausch von 2,50 Euro gegen eine Ausgabe von Apropos.
ChR: Man gewinnt beim Lesen der Zeitung den Eindruck, dass jemand an die Tür klopft, eintritt und zu erzählen beginnt.
Michaela Gründler: Das freut mich sehr, wenn unsere Arbeitsweise so ankommt. Diese Nähe ist von Montag bis Freitag auch wirklich da. Die Geschichten kommen zu uns, wir erzählen sie dann oder ermutigen und unterstützen die Verkäufer dabei, sie selbst zu erzählen. Unsere Buchprojekte sind nur durch diese Nähe möglich gewesen, denn nur dort kann jemand offen und ehrlich erzählen, wo er sich angenommen und verstanden weiß. Die Apropos-Bücher „Denk ich an Heimat“ oder „So viele Wege“ zeigen in Wort und Bild die Buntheit unserer Verkäuferschar.
ChR: Buntheit bringt viel Energie mit sich, Journalismus lebt von lebendigem Austausch, braucht aber auch Konzentration und Ruhe. Wie gelingt es Ihnen, sich hier abzugrenzen?
Michaela Gründler: Ich gebe die Frage an Sie zurück. Was ist Abgrenzung? Ich bin ein Mensch, der sich immer ganz auf andere ein- und Dinge zulässt. Manchmal auch mehr als nötig. Zudem bin ich schnell dazu verleitet, Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur für mich, sondern auch für andere. In diesem Bereich habe ich viel dazugelernt und übe nahezu täglich, Verantwortung wieder zurückzugeben. Die Verkäuferinnen und Verkäufer haben ihre eigenen Entwicklungsfelder und es ist nicht meine Aufgabe, sie ihnen abzunehmen. Das muss ich mir allerdings immer wieder vergegenwärtigen, da ich einen stark ausgeprägten Hilfsbereitschafts-Automatismus habe.
ChR: In Ihren Editorials erzählen Sie offen von Ihren Erlebnissen und Gedanken. Der Begriff „Achtsamkeit“ kommt hier regelmäßig vor. Wie balancieren Sie Achtsamkeit und kritischen Journalismus aus?
Michaela Gründler: Als ich bei Apropos zu arbeiten begann, war mein Tun stärker objektiv journalistisch geprägt als heute. Auch heute ist es mir wichtig, einen kritischen Blick auf die Welt zu haben. Doch mittlerweile stelle ich neben die objektiven Kriterien des Journalismus noch viel stärker die Beziehungsebene. Was ist Objektivität und was ist Menschlichkeit? Ich finde, beides lässt sich gut verbinden. Ich will die Menschen hinter den Kulissen spüren und nicht nur die rein objektiven Fakten aufzeigen. Da hat sich auch die Medienwelt gewandelt. Das Persönliche ist nicht mehr per se ausgesperrt. In den vergangenen Jahren sind wir dazu übergegangen, mehr und mehr Geschichten zu erzählen, nicht nur von anderen, sondern auch unsere eigenen – weil wir festgestellt haben, dass unsere 10.000 Leserinnen und Leser gerne erfahren, was sich hinter den Kulissen der Straßenzeitung tut.
ChR: Ihr Team hat sich verändert, sowohl im Vertrieb als auch in der Redaktion. Konstanz, Veränderung und Wachstum liegen nah beisammen. Oder?
Michaela Gründler: Als ich vor zwanzig Jahren bei Apropos anfing, haben mich nicht wenige Journalisten-Kollegen gefragt: „Wie lange willst du das machen? Wann fängst du denn bei einer richtigen Zeitung an?“ Im Laufe der Jahre hat sich diese Frage gewandelt, jetzt bekomme ich zu hören. „Wenn du je bei Apropos aufhörst, denk an mich, ich übernehme gern.“ Die Zeitung und ich sind gewachsen, das Team hat sich verändert: Professionalisierung und eine klare Ausrichtung haben die vergangenen zwanzig Jahre geprägt. Meine beiden Redakteurinnen bringen vielfältige Ansätze, Schwerpunkte und Gedanken ein, das entlastet mich sehr. Apropos wird als professionell gemachtes Medium wahrgenommen, das zeigen auch die Preise, die wir im Laufe der Jahre gewonnen haben: Das war und ist die Anerkennung für unser aller Arbeit, die der Redaktion, des Vertriebes, der Verkäuferinnen und Verkäufer.
ChR: Die Texte der Schreibwerkstatt sind ein wesentlicher Teil jeder Ausgabe, hier kommen die Verkäufer und Verkäuferinnen zu Wort, die Serie „Autor/in trifft Verkäufer/in“ holt Monat für Monat Apropos-Verkäufer vor den Vorhang. Wie zeitintensiv ist das?
Michaela Gründler: Sehr zeitintensiv und ich sage Ihnen: Jede Minute ist sehr gut investiert. Wir wollen, dass unsere Verkäuferinnen und Verkäufer in ihrem vollen Potenzial wahrgenommen werden. Dass es die Geschichten gibt, die sie auf der Straße erzählen, die sie aber auch in Ruhe im sicheren Umfeld der Redaktion selbst zu Papier bringen. Die Autor*innen der Schreibwerkstatt spüren mehr und mehr ihren Selbstwert, bekommen Rückmeldungen zu ihren Texten, werden darin wahrgenommen, dass sie selbst von sich erzählen können und wollen. Wir reden nicht über sie, sondern mit ihnen, sie schreiben, was sie bewegt.
ChR: Sie besuchen mit den Verkäufer*innen Fußball- und Eishockey-Spiele, die Salzburger Festspiele, gehen in Ausstellungen und in Konzerte. Die Karten bekommen Sie jeweils geschenkt, das ist aber nicht so selbstverständlich. Oder?
Michaela Gründler: Mittlerweile ist es das schon. Ich war lange Jahre, wie man so schön sagt, bei jedem „Hund-Derschlagen“ dabei. Ich habe viel genetzwerkt und tue das auch heute noch. Ich war ehrenamtlich in zahlreichen Vorständen wie etwa bei den Salzburger Medienfrauen, in der Radiofabrik, im Landeskulturbeirat sowie auch im weltweiten Straßenzeitungsnetzwerk tätig. Aktuell bin ich Mitglied in der Medienkommission der Erzdiözese. Seit vielen Jahren kommen die Veranstalter von selbst auf uns zu. Auch für das Sponsoring reicht mittlerweile ein Anruf: Das ist hart erarbeitet und auch eine Form der Anerkennung unser aller Arbeit.
ChR: Neben dem Bereich „Soziales“ hat auch die Kultur ihren sicheren Platz in jeder Apropos-Ausgabe. Warum?
Michaela Gründler: Ich komme aus dem Kulturjournalismus, habe in Salzburg Germanistik und Publizistik studiert und anfangs bei der Salzburger Volkszeitung als Kulturjournalistin gearbeitet. Das hat mich geprägt. Je nach Themenschwerpunkt ist Apropos ein soziales Medienprojekt oder ein mediales Sozialprojekt, darauf bin ich stolz. Kultur verstehe ich umfassend: Erst dann, wenn die Lebensbedürfnisse – Wohnraum, Nahrung, Gesundheit – ausreichend abgedeckt sind, dann ist ein Freiraum für Kultur geschaffen. Wenn wir mit den österreichischen, rumänischen und afrikanischen Verkäufer*innen ins Museum gehen, öffnen sich für sie diese Freiräume, aus Museumsbesuchern werden sie zu Beteiligten, das verändert sie auch in ihrem Auftreten.
ChR: Wachstum klingt manchmal so einfach, als könne man ohne Krisen wachsen. Das entspricht aber nicht der Realität. Durch welches Ereignis sind Sie selbst in letzter Zeit gewachsen?
Michaela Gründler: Vor Weihnachten 2018 bin ich mit dem Fahrrad schwer gestürzt. Trotz aller Schmerzen machte ich eine wunderbare Erfahrung: Ich darf und kann um Hilfe bitten. Das war im wahrsten Sinne heilsam für mich, denn an sich fällt es mir recht schwer, um Hilfe zu bitten. Ich bin es einfach gewohnt, anderen zu helfen. Diese Umkehrung der Rollen war eine wunderschöne Erfahrung: Ich bin in der Not nicht alleine. Wir alle dürfen im Endeffekt auf die Hilfe anderer zählen. Und dabei wachsen wir alle.
Wir danken Chefredakteurin Michaela Gründler und ihrem Team für die Nach"Druck"Erlaubnis des Apropos-Titelinterviews und gratulieren herzlich!