575 Stunden weniger aktuelle Musik?
IM WORTLAUT / PETITION FÜR Ö1
04/10/22 Herrscht Gefahr in Verzug in Sachen Ö1, droht dort ein Programm-Kahlschlag in Sachen zeitgenössische Musik? Dass der Intendant Roland Weißmann vor Selbstverstümmelung des ihm anvertrauten ORF nicht zurückschreckt, bewies er kürzlich mit der Ankündigung, die „blauen Seiten“ um fünfzig Prozent reduzieren zu wollen. Ein Offener Brief und eine Online-Petition.
Der Intendant des Klangforums Wien, Peter Paul Kainrath, hat sich in der Sache an die ORF-Führung und einige Regierungsmitglieder gewandt – an den Kanzler und Vizekanzler, an die Kultur-Staatssekretärin und eine ihrer Spitzenbeamtinnen. Erstaunlicherweise nicht an die eigentlich zuständige Ministerin Susanne Raab, was tief blicken lässt, welcher Stellenwert ihr als Medien-Ministerin zugesprochen wird. Zugleich wurde eine Online-Petition gestartet, die bereits tausende Unterstützer gefunden hat. Zu den Erstunterzeichnern gehört auch das gesamte Führungsteam der Salzburger Festspiele. – Der Offene Brief im Wortlaut:
Von Peter Paul Kainrath, Klangforum Wien
Das ORF Radio schickt sich an, Inhalte und ganze Sendereihen aus dem Programm von Ö1 zu streichen oder bis zur Unkenntlichkeit zu kürzen: ZEIT-TON, die Ö1 JAZZ Nacht, die Lange Nacht der Neuen Musik, Kunstradio und weitere Formate sind davon betroffen. Insgesamt geht es um mindestens 575 Stunden zeitgenössischen, größtenteils österreichischen Musikschaffens, die aus dem öffentlichen Raum verschwinden sollen. Darüber hinaus wird das heimisch wie international hoch angesehene, vom ORF produzierte MUSIKPROTOKOLL im Steirischen Herbst als Festivalplattform neuer und experimenteller Musik in Frage gestellt. Es droht ein Kahlschlag mit einem nie dagewesenen Schaden für die heimische Musikszene und der damit verbundenen wirtschaftlichen Wertschöpfungskette, welche Komponist:innen, Verlage, Labels, Festivals, Konzerthäuser, Jazzclubs, Interpret:innen, Ensembles, Orchester aber auch Universitäten und Konservatorien sowie freischaffende Künstler:innen gleichermaßen betrifft.
Die Annahme des ORF, dass Neue Musik und Jazz programmliche Randzonen und beispielsweise ZEIT-TON und die Ö1 JAZZ Nacht angeblich „wenig gehörte Sendungen“ seien, entspringt dem kapitalen Denkfehler, Musik nicht als großes Ganzes zu begreifen und die Hochglanzkultur gegen das originär Schöpferische ausspielen zu wollen. Die Pläne des ORF würden damit einer fatalen Beschädigung des hohen Ansehens und des internationalen Ranges des Musiklandes Österreich gleichkommen – ganz zu schweigen von der eigenen Schwächung in der Europäischen Radiounion (EBU) mangels anzubietender Inhalte.
Der ORF scheint sich seiner fundamentalen, im entsprechenden Gesetz in unmissverständlicher Weise verankerten Rolle gar nicht bewusst zu sein, wenn er aus freien Stücken (Budgetkürzungen dürfen nie automatisch die Totalstreichung von Inhalten bedeuten) den eigenen ZEIT-TON als mit Abstand größte Bühne zeitgenössischer Musik (niemand anderer schafft es, allabendlich 15.000 – 20.000 Hörer:innen für das Neue in der Musik zu begeistern) aufgibt.
Verschärft wird das Ganze durch die post-pandemischen Herausforderungen, denen sich alle Veranstalter – von der Hochklassik bis zum avancierten Zeitgenoss:innentum – aktuell stellen, indem sie das Interesse und Vertrauen des Publikums wieder aufbauen müssen. In solch einem Moment der großen Umbrüche das Fundament des Musiklebens – denn jede etablierte Musik war einmal neu und zeitgenössisch – aus dem Öffentlich-Rechtlichen zu verbannen, zeigt die besorgniserregende Distanz des ORF zur Wirklichkeit des Kulturlebens und damit zu seiner eigenen Hörer:innenschaft auf, aus der dieser seine Reform- und Kürzungspläne entwirft.
Einen Sender neu zu denken und Budgetadjustierungen vorzunehmen, sind keine Tabus. Ein partnerschaftlicher Dialog mit allen betroffenen Kompetenzträger:innen kann hierbei zu mitunter überraschenden und vielversprechenden Resultaten führen. Fundamentale Inhalte künstlerischen Schaffens hingegen bis zu deren Unauffindbarkeit aus dem öffentlichen Medienraum zu streichen, steht als eklatante Verletzung des im ORF Gesetz formulierten öffentlich-rechtlichen Kernauftrages im Raum.
Wir fordern, dass der ORF seinen Aufgaben gemäß Gesetz (Vermittlung und Förderung von Kunst, Kultur und Wissenschaft sowie angemessene Berücksichtigung und Förderung der österreichischen künstlerischen und kreativen Produktion, ORF-Gesetz § 4) gerecht wird, Abstand von der massiven Infragestellung Neuer Musik und Jazz nimmt und weiterhin einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt des österreichischen Musiklebens leistet. Die Forderung ist als Einladung zum Dialog zu verstehen.
Zu der vom Klangforum Wien gestarteten Petition, die man online unterschreiben kann