Chiffren, Brandrede und Abschied
FESTSPIELE / ODE TO NAPOLEON
17/08/24 War Johannes Brahms der eigentliche Vorläufer der Zweiten Wiener Schule? Das Kammerkonzert in der Reihe Zeit mit Schönberg führte eindringlich vor, wie sehr die atonale und zwölftonale Variante der Musik des 20. Jahrhunderts in der Tradition, speziell der wienerischen und der Brahms'schen Kunst der sich entwickelnden Variation, verwurzelt war. Und ihre Gründerväter haben das gar nicht verleugnet.
Von Gottfried Franz Kasparek
Am Beginn des abwechslungsreichen Konzerts am Freitag (16.8.) spielten die Geigerin Isabelle Faust, der Klarinettist Pascal Moraguès und der Pianist Florent Boffard mit wie gestochen feiner Klarheit, aber auch mit innigem Empfinden das Adagio aus Alban Bergs Kammerkonzert, das der Komponist anläßlich des 50. Geburtstag von Arnold Schönberg für diese Triobesetzung arrangiert hat. Da verbindet sich die dodekaphonische Fortführung der harmonischen Feinarbeit eines Brahms freilich mit der Programmmusik eines Mahler: Es geht in dem anrührenden Stück um den tragisch frühen Tod der Gattin des Lehrers, Mathilde. Fast verschämt schrieb Berg an Schönberg, er habe in das Stück „viel an menschlich-seelischen Beziehungen hineingeheimnißt“. Die die Textur beherrschende motivische Chiffre für den Namen der vielgeliebten Frau beweist es, vielleicht auch der innewohnende Krebsgang. An Brahms erinnert die Kunstfertigkeit der Harmonik. Ganz Berg zu eigen ist die Meisterschaft der Verknüpfung von melodischer Emphase mit avancierten Techniken.
Danach kam der Aphoristiker Anton Webern zu Wort, mit einem etwa dreiminütigen Streichtrio-Gespinst von 1925, das lange neben dem „offiziellen“ Streichtrio des Komponisten verborgen geblieben ist. Da schwebte – Webern schrieb es knapp vor einer Bergwanderung – auch so etwas wie vergeistigte Naturstimmung im Raum. „Ruhig fließend“ widmeten sich in phänomenaler Tonschönheit Isabelle Faust, William Coleman und Julia Hagen dem akkuraten Kleinod. Danach kamen der Pianist, der Klarinettist und die Flötistin Júlia Gállego dazu, um Arnold Schönbergs Kammersinfonie Nr. 1 op. 9 in der patenten Kammerversion Weberns zu Gehör zu bringen. Anno 1906 hatte da gleichsam die Avantgarde in der spätromantischen Klangküche gebrodelt. In der Kammerfassung kommt noch mehr als im Original zum Vorschein, wie sehr das artifizielle Geflecht der Sonatensatztechnik vom Wiener Walzer mitbestimmt wird. Großartig, wie das Ensemble hier tönenden Intellekt mit sinnlicher Spielfreude verbunden hat!
Nach der Pause gab es zunächst harte Kost mit Schönbergs Ode to Napoleon in des Komponisten Fassung für Streichquartett, Klavier und Sprecher. Das hybride Stück in strenger Zwölftontechnik von 1942 auf einen Schmähtext Lord Byrons galt damals Hitler, wobei Schönberg sich eigenartiger Weise eher die Sprechtechnik Winston Churchills zum Vorbild nahm. Dass er sich in der Nachfolge Mozarts, Schillers, Goethes und vor allem Beethovens – das Es-Dur der Eroica – sah, beweist, wie sehr sich auch Schönberg als Vertreter eines „besseren Deutschland“ verstanden hat.
Die meisterlich gedrechselte Sache eignet sich sehr gut zum Nachdenken über leider immer wiederkehrende populistische Schreihälse. Das kompetente und engagierte Ensemble komplettierte an der zweiten Geige Meesun Hong Coleman. Der den englischen Originaltext geradezu gruselig doppelbödig artikulierende Georg Nigl musste die fatale Mikroport-Mode ertragen, die er mit seiner mächtigen Stimme gar nicht notwendig gehabt hätte. Besser gepasst als diese Unsitte hätte, wenn schon Verstärkung, ein Standmikrophon, wie es die Mächtigen des Zweiten Weltkriegs tatsächlich für ihre Brandreden benützt haben. Erfreulich, dass im sehr informativen Programmheft auch Schönbergs eigenhändige, sehr romantische und bildkräftige Übersetzung des Byron-Textes ins Deutsche mitzulesen war.
Danach gab es eine entspannende Wiederholung von Weberns Streichtrio-Satz und als Finale das h-Moll-Klarinettenquintett op. 115 des Johannes Brahms. Damit hatte 1891 die Reihe der wundersamen, oft weit in die Zukunft weisenden „Abschiedswerke“ Brahms' begonnen, inspiriert vom damaligen Meisterklarinettisten Richard Mühlfeld. Nun war es Pascal Moraguès, der sich als eine Art „primus inter pares“ mit spürbarer Liebe zu dieser Musik zwar nie in den Mittelpunkt stellte, aber vor allem im balsamischen, traurig-schönen Adagio zu einem Zentrum großer Emotion wurde. Hingebungsvoller und dennoch altersweise diskreter kann man das nicht interpretieren. Rund um ihn sorgten Meesun Hong Coleman, William Coleman und, fast den ganzen Abend lang präsent, die sensible und virtuose Primgeigerin Isabelle Faust und die mitfühlende und bravouröse Cellistin Julia Hagen für eine herrlich erfüllte halbe Stunde großer Kammermusik. Große Begeisterung im Publikum und, nach dem bewegenden, resignierenden Ende des Quintetts, gottlob keine Zugabe.
Bilder: SFS / Marco Borrelli