Zu gut, um noch mehr zu hören
FESTSPIELE / TALLIS SCHOLARS
24/07/24 Selten aber manchmal eben doch muss man als Musikhörer zur aktiven Gegenwehr schreiten – und ganz einfach das Weite suchen. Dann nämlich, wenn's die Programmgestalter allzu bunt treiben. Verstiegener als die Werkfolge für das Konzert am Dienstag (23.7.) in der Kollegienkirche kann man nicht programmieren.
Von Reinhard Kriechbaum
Im 16. Jahrhundert hat es den Begriff musica riservata gegeben. Was genau damit gemeint war, darüber streiten die Gelehrten. Jedenfalls Musik für sozial und bildungsmäßig erlesene und fachlich bestinformierte Hörerzirkel. Einen solchen Exklusivitätsanspruch getraute sich heutzutage niemand auch nur anzudenken. Aber durchs musikwissenschaftlich-intellektuelle Hintertürl kann man durchaus musica riservata offerieren. Meist gelingt es bei der Ouverture spirituelle der Festspiele, das Zeitgenössische so aufzubereiten, dass das Publikum sich liebend gerne verführen lässt. Gelegentlich wird der Bogen aber auch überspannt. So geschehen am Dienstag.
Georg Frierdrich Haas' zwanzigminütiges Geigen-Solostück de terrae fine ist Musik, die zu größter Konzentration zwingt. Sehr klare, kurze Motive werden verfremdet, indem die Intonation um Viertelton-Grade verändert wird. Die Floskeln, die oft und oft wiederholt werden, gewinnen dadurch Eigenleben. Der Boden beginnt an diesem zwanzigminütigen Welten-Ende tatsächlich zu schwanken. Dies aber – das macht dieses Stück so sympathisch – ohne Effekthascherei. Und auch ohne auf vordergründige Virtuosität zu setzen. Gunde Jäch-Miko hat das Stück mit lupenreinem Ton, die Mikrotonalität ohne jedes Vibrato verschleiernd realisiert. Spürbar gebannt folgten die Zuhörer.
Wahrscheinlich wäre es sinnvoller gewesen, den Klavierzyklus Makrokosmos I – Twelfwe Fantasy-Pieces after the Zodiac unmittelbar darauf folgen zu lassen. Aber die Programmgötter haben anders entschieden. Die Tallis Scholars unter Peter Phillips waren eingeladen für ein um 1500 entstandenes Werk, das in dieser Zeit ganz ohne Vorbild und lange Zeit auch ohne Nachfolge blieb: Antoine Brumels Missa „Et ecce terrae motus“ für zwölf Stimmen. Aus minimalistischen Partikeln setzt sich dieses Wunderwerk der Stimmenverwebung und -überlagerung zusammen. Wie in Mosaiktechnik werden diese Melodie-Kleinteile aneinander gefügt und ineinander verklinkt. Sie bilden größere Muster, einmal dichter und flächiger, dann wieder klarer im Lineament. Wenn es darum geht, wichtige Wörter des Messtextes herauszuheben, werden Motive speziell in Sopranlage insistierend wiederholt, dadurch aufgepeitscht bis zu einer Art Ekstase. Rufe wie das „Kyrie eleison“ oder das „miserere nobis“ wirken mit aller Vehemenz an den himmlichen Adressaten hinaufgeschleudert. Da hat Peter Phillips als geschickt gestaltender Dramaturg ganz entschieden auch nachgeholfen. Wenn es im Credo heißt „cuius regni non erit finis“, dann gewinnt diese ewige Regentschaft in einem Stimmen-Dickicht sondergleichen höchste Eindringlichkeit.
Nicht alle Konzertbesucher werden die obligaten Priesterworte vor dem Einsatz des Sanctus im Gottesdienst im Kopf haben: „Vereinigen wir uns mit den himmlischen Heerscharen zum Lob Deiner Herrlichkeit.“ In Antoine Brumels Messe ist das tatsächlich ein Zusammengehen von himmlischen und irdischen Chören, in eindringlichem Wechsel von Männer- und Frauenstimmen. Das „Hosanna“ wächst sich aus dem Bicinium einer Sopran- und Altstimme – bloß ein Terz-Motiv! – zu einem sagenhaft komplexen Jubelgesang aus.
Als das „Dona nobis pacem“ des Agnus verklungen war, dauerte es bemerkenswert lang, bis Beifall einsetzte. Die Magie dieser eindringlichen Interpretation durch die Tallis Scholars wirkte spürbar in den Seelen nach. Der Schreiber dieser Zeilen hat da (nicht als einziger) für sich beschlossen, sich diese Stimmung nicht zerstören zu lassen. Man muss auch verzichten können. Sogar auf ein Stück von George Crumb.