Idiot. Messias. Mensch.
HINTERGRUND / DER IDIOT
01/07/24 Es war eines der überwältigendsten Opern-Erlebnisse überhaupt – Mieczysław Weinbergs Dostojewski-Oper Der Idiot voriges Frühjahr im Theater an der Wien. Zuvor wurde das Werk erst zweimal aufgeführt. Nun vertrauen die Festspiele das Jahrhundertwerk der Dirigentin – und Weinberg-Kennerin – Mirga Gražinytė-Tyla und dem Regisseur Krzysztof Warlikowski an.
Von Heidemarie Klabacher
Mieczysław Weinberg (1918 bis 1996) vollendete seine letzte Oper Der Idiot im Jahr 1986. Die Uraufführung der Kammerversion war 1991 in Moskau. Die Uraufführung der Originalfassung in Mannheim 2013 dirigierte Thomas Sanderling. Dieser leitete auch die Österreichische Erstaufführung des Theater an der Wien im MuseumsQuartier. Nun also die Salzburger Festspiele. Schon in seiner Amtszeit als Intendant der Wiener Festwochen hat Markus Hinterhäuser dem Komponisten Mieczysław Weinberg eine eigene Reihe gewidmet. „Diesem für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts emblematischen Komponisten“ einen ihm gebührenden Platz in der Musikgeschichte zuzuweisen, sei ihm ein wichtiges Anliegen.
Es ist bereits die vierte Inszenierung von Krzysztof Warlikowski bei den Salzburger Festspielen. Das Wort „Idiot“, in vielen Sprachen negativ konotiert, kennzeichne bei Dostojewski eher eine prophetische Figur, „jemanden, der die Wahrheit spricht, der eine höhere Sensibilität und eine besondere Gabe im Vergleich zu anderen hat“, erklärt der Regisseur.
Die Figur trage auch etwas Mythologisches in sich, etwas das in anderen Menschen Gefühle der Liebe hervorrufe – etwas, das wiederum Veränderungen und Unheil für andere Menschen hervorrufen könne. In der Figur des Außenstehenden seien auch christliche Anklänge zu finden. „Er konfrontiert die Welt mit sich selbst und kündet von bevorstehenden Katastrophen“, so Warlikowski.
Die musikalische Leitung hat Mirga Gražinytė-Tyla, die mit Weinbergs Oper ihr Debüt am Pult der Wiener Philharmoniker geben wird. „Weinbergs Musik suggeriert deutlich, dass er die komplexe Welt Dostojewskis auf eine noch komplexere Ebene heben wollte. Gleichzeitig werden wir dadurch auf einfachste Wahrheiten zurückgeführt. Was Weinberg in dem Stück motivisch macht, ist unglaublich.“ So habe Weinberg auf „das System Wagners zurückgegriffen, dieses aber noch um ein Vielfaches multipliziert“, so die Dirigentin. „In fast jedem Takt finden sich Verbindungen zu anderen Motiven, einem Leitrhythmus oder einer Leitharmonie. Solche Bezüge finden sich zum Teil noch bevor der Name der Figur fällt. Die Musik enthält unglaublich viele Subtexte im Verhältnis der Figuren zueinander.“
Die „Titelrolle“, die Partie des Fürsten Lew Nikolajewitsch Myschkin singt Bogdan Volkov. Für ihn ist Der Idiot – nach Falstaff 2023 und Così fan tutte .2020 – die bisher größte Rolle. „Für die musikalische Unterstützung, die wir hier erfahren, bin ich sehr dankbar, da es keine einfache Oper ist“, sagt Volko über die Partie. Für ihn verkörpert Myschkin „die Schönheit als Mittel zur Rettung der Welt sowie Mitgefühl als einzig gültiges Gesetz der menschlichen Existenz“. Besonders aufgrund des von Weinberg selbst erfahrenen Leids durch seine Inhaftierung während des Stalinregimes und den Holocaust hatten diese Begriffe für ihn eine große Bedeutung.
„Die menschliche Natur besteht nicht darin, böse zu sein. Nach dem Krieg ging unser aller Bestreben dahin, eine Katharsis, eine bessere Welt zu erschaffen. Genau diese Fortschritte haben wir aber nicht erzielt – im Gegenteil, wir haben Rückschritte gemacht“, sagt Warlikowski. Mitleid und Mitgefühl sind Triebfedern des oft schwer nachvollziehbaren Handelns des Fürsten. „Wir bewegen uns da, wenn man so will, genau in der Mitte eines dunklen und eines hellen Lichts. Mitgefühl ist etwas, das in uns lebt. Kunst ist etwas, das oft auch für politische Zwecke vereinnahmt wird. Kunst ist aber meiner Meinung nach essentiell, um uns selbst zu heilen und uns wieder in ein Gleichgewicht zu bringen.“
Auf Parallelen zwischen der Figur des Fürst Myschkin und Weinberg selbst weist Mirga Gražinytė-Tyla hin: „Wie Myschkin im Stück mit dem Zug aus der Schweiz ankommt, so kam auch Weinberg damals mit dem Zug in Moskau an. Parallelen spiegeln sich auch in der Namensgebung der Figur wider, in der Weinberg seine eigenen Charakterzüge erkennt. Weinberg möchte in seinem Werk die Dankbarkeit für sein Überleben äußern. In den inneren Zwiespälten und der Lebensgeschichte Myschkins und Weinbergs selbst finden sich viele Gemeinsamkeiten.“
Dass es aufgrund der bislang wenigen Aufführungen von Der Idiot kaum Referenzwerte gibt, empfindet Gražinytė-Tyla nicht als Nachteil: „Ich sehe darin eine tolle Aufgabe und eine große Herausforderung. Nicht vorhandene Traditionen können sogar eine gewisse Erleichterung darstellen. Wenn man sich so intensiv wie wir in der letzten Zeit damit beschäftigt, stellt man fest, dass es vieles gibt, wohin uns das Stück ganz von selbst führt“. Im Vergleich zu Weinbergs Oper Die Passagierin, die sie in diesem Jahr ebenfalls schon dirigiert hat, sei Der Idiot das plakativere Stück. Darin gebe es trotz der Dunkelheit von Dostojewskis Text und der Fülle tragischer und dramatischer Ereignisse viele Momente des Lichts und der Freude. Den Vergleich zwischen diesen beiden Opern zieht Warlikowski wie folgt: „Die Passagierin war eine Oper, die Weinberg als Vergangenheitsbewältigung für sich selbst schreiben musste. In Der Idiot geht es Weinberg darum, dass er Frieden mit sich selbst und seinem Leben schließt.“
Der Idiot – Premiere ist am 2. August in der Felsenreitschule – www.salzburgerfestspiele.at
Bilder: SF/Neumayr/Leo
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