Die Wahrheit kommt aus Teufels Mund
HINTERGRUND / JEDERMANN
02/07/24 „Nicht in seinen kühnsten Träumen“ habe er je gedacht, bei den Salzburger Festspielen den Jedermann zu inszenieren. Der kanadische Schauspieler, Lichtdesigner und Regisseur Robert Carsen setzt das Sterben des reichen Mannes auf dem Domplatz neu in Szene. Den Festspielen gab er ein Interview.
„Seit ich das erste Mal mit Hofmannsthal in Berührung gekommen bin, begeistert es mich, und ich habe fünf der sechs Opern, die er mit Richard Strauss geschrieben hat, auf die Bühne gebracht“, sagte Carsen im Festspiel-Interview mit dem Dramaturgen David Tushingham. Zudem habe er sich lange mit „Hofmannsthals Werken in der dreibändigen englischen Übersetzung beschäftigt – wobei Jedermann interessanterweise darin gar nicht enthalten ist“. Die Texte seien reich an Bedeutungen, Symbolen und Intentionen. „Hofmannsthal besaß die einzigartige Fähigkeit, ein bestimmtes Thema anzuschneiden und seine Leserinnen und Leser die unter der Oberfläche verborgenen Reichtümer spüren zu lassen. Es ist, als würde man einen Brunnen bohren: Wasser schießt aus dem Boden, aber der Brunnen wird von dem darunter fließenden unsichtbaren Fluss gespeist.“
Des politischen, sozialen und kulturellen Zeitgeistes sei sich der Autor immer bewusst gewesen: „Wie so viele seiner Zeitgenossen litt er nach dem Untergang des Österreichischen Kaiserreichs unter dem Gefühl des Verlustes“, sagt Carsen. „Ich denke, er sah auch die Konflikte kommen. ... Die Geldbesessenheit der Gesellschaft, in der er sich bewegte, war ein Thema, das ihn immer wieder beschäftigte.“ Den Jedermann – Untertitel Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes – habe er er aus Sorge über den zunehmenden Materialismus und den damit einhergehenden Verfall der geistigen Werte geschrieben. Auch der zweite Akt des Rosenkavaliers (der im selben Jahr wie Jedermann uraufgeführt wurde) und die 1916 entstandene Fassung von Ariadne auf Naxos spielten, erinnter Carsen, in den Häusern der reichsten Männer Wiens.
Der Jedermann sein nicht repräsentativ für Hofmannsthals Schreiben, erzählt Carsen. Speziell sei de Bezug auf die ursprüngliche mittelalterliche Moral. „Bevor ich mich imstande sah, auch nur ansatzweise eine Inszenierung zu entwickeln, gab es enorm viel zu studieren und zu verstehen: Ich musste das Stück sehr, sehr oft lesen – häufig sogar laut –, um zu begreifen, wie sich die Szenen zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen.“ Er denke, so Carsen, Hofmannsthal habe ein „Mysterienspiel“ geschrieben, „das viele 'mysteries' in sich birgt, die jede Inszenierung zu entschlüsseln sucht“.
Der Jedermann sei der Einzige im Stück, der eine Wandlung durchmache, psychologisch und spirituell. Deshalb halte er es für wichtig, „dass sich das Publikum mit ihm identifiziert“: „Die meiste Zeit über versteht Jedermann nicht, was für das Publikum auf der Hand liegt, nämlich wie fehl am Platz seine Werte sind. Erst in der eindrucksvollen Szene mit den Werken, als er alles verloren hat, beginnt Jedermann zu ahnen, wie ein sinnvolles Leben aussehen könnte.“
Er sei überzeugt, so Carsen im heute Dienstag (2.7.) auf Englisch geführten Gespräch mit David Tushingham, „dass es ein sehr, sehr gutes, vielleicht sogar ein großes Theaterstück ist – was immer das bedeuten mag“. Mammon und Teufel kommen im mittelalterlichen englischen Everyman nicht vor. „Das Tolle an dieser Szene ist, dass der Teufel den Zweifeln Ausdruck verleiht, die vielleicht jemand hat, der dem christlichen Erlösungsgedanken – dass Reue zur Vergebung der eigenen Sünden führen kann – skeptisch gegenübersteht.“ Hofmannsthal hätte die „absolut brillante Idee“ gehabt, „alles auf den Kopf zu stellen“. Es sei der Teufel ist, der sagt Die Welt ist dumm, gemein und schlecht. „Merkwürdigerweise ermöglicht es uns genau diese Szene, Jedermanns endgültige Wandlung unabhängig von unserer religiösen Überzeugung zu akzeptieren, allein deshalb, weil die Einwände dagegen so klar und deutlich aus dem Mund des Teufels kommen.“ Dabei sei der Teufel im Jedermann nur ein Teufel „und nicht Satan“. Ihm sei aufgefallen, so Carsen, „dass Jedermanns bester Freund, der Gute Gesell, ihn ständig in seinem egoistischen, schlechten Verhalten bestärkt“. Der Gesell spreche mehrmals von der Hölle und schwöre sogar auf Gottes Tod: „ Das hat mich auf den Gedanken gebracht, dass es sich bei diesen beiden Rollen – Guter Gesell/Teufel – tatsächlich um ein- und dieselbe Figur handeln könnte und dass Jedermann von Anfang an einen Teufel an seiner Seite hat.
Sein Instinkt sage ihm, so Carsen, „dass es im Jedermann eher darum geht, wie man lebt, als darum, wie man stirbt. Jedermanns Motto mag 'Carpe diem' lauten, aber wenn man ausschließlich nach diesem Motto lebt, riskiert man dann nicht, dass dies auf Kosten anderer geschieht – selbst wenn man derjenige ist, der alles bezahlt? Ich denke, in dem Stück geht es auch darum, dass wir uns alle gegenseitig unterstützen müssen, dass wir alle Teil eines größeren Ganzen sind.“ (SF / Tushingham; dpk-klaba)
Das (hier stark gekürzte wiedergegebene) Gespräch mit Robert Carsen führte David Tushingham für die Festspiele. Die Übersetzung besorgte Sylvia Zirden. Das gesamte Interview wird im Programmbuch zur Neuinszenierung des Jedermann 2024 erscheinen.
Bilder: SF / Jan Friese