Dr. Hohenadl sorgt für den Winter vor
SATIRE
01/12/23 Zuerst hatte Dr. Hohenadl befürchtet, er würde jeden Tag einen Esslöffel Lebertran zu sich nehmen müssen. Über Lebertran war ihm Übles zu Ohren gekommen. Ein normaler Mensch könne seinen Geruch nicht ertragen und müsse auf der Stelle brechen.
Von Werner Thuswaldner
Aber von Lebertran war nicht die Rede. Der Apotheker sagte deutlich: „Fischöl“. Und dazu noch „Omega3 Fettsäuren“. „Nein, Lebertran war einst ein Mittel, um Laternen zum Leuchten zu bringen. Auf Fischöl können Sie vertrauen. Es ist in Kapseln eingeschlossen, riecht also nicht und hat sich viel tausendfach bewährt. Für das Herz, die Gelenke, den Durchfluss des Bluts, gegen Hirnschlag, Arthritis und Wechseljahrbeschwerden.“
Dr. Hohenadl hatte den Apotheker nach einem Mittel gegen Infektionsgefahr im bevorstehenden Winter gefragt. Er wollte nicht noch einmal fast vier Wochen mit Fieber im Bett liegen und von Hustenanfällen geplagt werden. Der Apotheker, ein gesund aussehender Mann im blütenweißen Mantel, der Kompetenz ausstrahlte, schlug nicht etwa eine Reihe verschiedener Mittel vor, sondern fing an, vom Fischöl zu schwärmen und legte ihm eine Packung mit vierzig Kapseln vor: „Wenn Sie davon jeden Tag eine Kapsel nehmen, sind Sie auf der sicheren Seite.“
Dr. Hohenadl zögerte beim Bezahlen, weil ihm der verlangte Betrag hoch erschien, und hoffte, dass ihm der Apotheker vielleicht doch noch eine günstigere Variante, vielleicht eine auf Kräuterbasis, nennen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Dr. Hohenadl verließ die Apotheke und nahm sich vor, den Kapselvorrat zu strecken und nur jeden zweiten Tag eine zu sich zu nehmen.
Zu Hause überlegte er weiter, indem er die Packungsbeilage studierte. Er las, dass das Fischöl die Durchblutung fördere und dass es gerade in Schwangerschaft- und Stillzeit für die Gesundheit von Mutter und Kind wichtiger denn je sei. Das machte ihn stutzig. Denn was er vor allem wollte, war, heil durch den bevorstehenden Winter zu kommen. Mit Schwangerschaft hatte er rein gar nichts im Sinn.
Am nächsten Tag brach er die erste Kapsel aus der Folienverpackung heraus und schluckte sie. Bald darauf glaubte er, eine wohltuende Wirkung zu spüren. Das Herz schlug ruhig und regelmäßig, es schien ihm, als hätte seine Sehkraft zugenommen.
Dr. Hohenadl überlegte. Das Fischöl kam ihm nützlich vor. Aber war es das richtige Mittel, um ihn vor den Attacken der Grippe, die jeden Winter, transportiert von Vögeln, Hühnern oder Schweinen, in Wellen aus dem Osten anzurollen pflegten, zu bewahren? Er erinnerte sich dran, dass in der Medizin immer wieder verschiedene, einander widersprechende Denkschulen im Streit miteinander lagen und entschied, es nicht beim Rat, den er in der Apotheke zur Kaiserkrone bekommen hatte, zu belassen. Deshalb sprach er die Woche darauf in der Aegidius Apotheke vor. Hier bediente ihn ein Mann im fortgeschrittenen Alter mit Vollglatze und weißem Schnurrbart, alles in allem eine Vertrauen einflößende Erscheinung. Dr. Hohenadl schilderte ihm genau seinen Wunsch nach wirksamer Vorbeugung und wies besonders auf die Anfälligkeit seiner Bronchien hin.
„Können Sie Fischöl empfehlen? Ich meine Omega3? Sie wissen schon.“
„Wie kommen Sie auf Fischöl? Sind Sie herzkrank?“
„Nein, keineswegs. Ich dachte nur.“
Wie ein gütiger Onkel erklärte ihm der Apotheker, dass aus seiner langjährigen Erfahrung ein einziges Mittel den Erfolg garantiere und das sei die Nasendusche. Davon, dass man die Nase extra duschen sollte, hatte Dr. Hohenadl noch nie gehört. Der Apotheker verschwand nach hinten und kam mit einem Gefäß wie zum Gießen von Topfpflanzen wieder. Auf einem Glasbehälter saß ein grüner Kunststoffaufsatz, durch den der „Einlauf“ in die Nase hinauf gepumpt werden sollte. Dr. Hohenadl erschrak ein wenig.
„Die Handhabung ist einfach. In den Behälter kommt eine salzhaltige Flüssigkeit. Die wird beim einen Nasenloch hineingepumpt und fließt beim anderen wieder heraus. Am besten ist es, wenn man sich dabei über das Waschbecken beugt. Auf diese Weise wird die Nasenschleimhaut gespült. Es löst sich nicht nur zäher Schleim, auch Dreck und Pollen gelangen nach draußen. Zudem werden Krankheitserreger, die sich im Sekret befinden, aus der Nase herausbefördert. Es braucht nur ein bisschen Übung. In ein paar Tagen geht ihnen die Prozedur ganz selbstverständlich von der Hand.“
Dr. Hohenadl fühlte sich ein bisschen eingeschüchtert. Nicht zuletzt deshalb, weil dieser Mann vom Fischöl rein gar nichts hielt. Bei der Nase anzusetzen, leuchtete ihm ein. Stand doch die Nase in dem Ruf, das Eingangstor für die aggressiven Grippeviren zu bilden. Er fragte nach dem Preis der Nasendusche. Die Antwort ließ ihn stutzen. Der Apotheker merkte es und sagte: „Ich kann Ihnen entgegenkommen. Moment!“
Wieder ging er nach hinten und brachte eine andere Nasendusche. Sie sah aus wie die erste, hatte aber einen blauen Kunststoffaufsatz. „Das Exemplar hat ein Kunde zurückgebracht. Ein Schnäppchen. Ich kann sie Ihnen zum halben Preis geben.“
„Eine Second-Hand-Spülung sozusagen.“ „Ja, Second-Nose-Spülung könnte man auch sagen. Natürlich sorgfältig desinfiziert. Dazu kriegen Sie eine Packung Nasenspülsalz gratis.“ Dieser Zusatz wirkte. Dr. Hohenadl bekam gerne etwas gratis.
Die ersten Versuche mit der Spülung gestalteten sich nicht ganz einfach. Dr. Hohenadl richtete eine Überschwemmung im Inneren seines Kopfes an, so dass sich sein Blick trübte. Aber er gab nicht auf und nach einer Woche beherrschte er die Methode klaglos. So wie die Flüssigkeit das eine Nasenloch hochstieg, so rann sie beim zweiten wieder heraus. Nun stets einen klaren Kopf zu haben, gefiel ihm. Deshalb wollte er aber das Fischöl, das er nun schon einmal für teures Geld gekauft hatte, nicht ungenutzt lassen. Der erste Apotheker wird doch wohl nicht ein totaler Versager gewesen sein und seine Gründe dafür gehabt haben, warum er so dringend auf dem Fischöl bestanden hatte. Dr. Hohenadl beschloss abzuwechseln: an einem Tag Fischöl, am nächsten Nasendusche.
Je länger er über seine Apothekenbesuche nachdachte, je drängender überkamen ihn Zweifel. Wie konnten zwei studierte Männer, die sich Pharmazeuten nannten, einander derart widersprechen? Fischöl und Nasendusche waren doch wirklich zwei unvergleichbare Strategien gegen die Grippe! Er kam nicht zur Ruhe, er wollte diesen Gegensatz nicht auf sich beruhen lassen. Am nächsten Tag ging er in die Saint-Charles-Apotheke.
Dort herrschte Hochbetrieb. Eine Schar durchwegs jüngerer Pharmazeutinnen, versuchte des Besucherandrangs Herr zu werden. Dr. Hohenadl nahm an, dass sich alle Kunden nach der optimalen Vorsorge gegen Grippeerkrankungen erkundigten. Nur eine von den Damen, die bedienten, war älter. An sie wandte sich Dr. Hohenadl. Zuerst brachte er die Rede auf Fischöl.
„Ja, ja, Fischöl ist gut. Heutzutage glauben die Menschen, ohne Fischöl gar nicht überleben zu können. Man fragt sich, wie wir früher ohne Fischöl über die Runden kommen konnten. Zur Vorbeugung gegen Herzinfarkt soll es sich ja besonders bewähren.“
„Und Nasenduschen?“ Die Apothekerin sah Dr. Hohenadl misstrauisch an und fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Nun schilderte er ihr, dass er sich dringend gegen die bevorstehenden Grippewellen wappnen wolle.
„Nun gut, Nasenspülungen. Aber Vorsicht! Wer übertreibt und jeden Tag die Nase spült, kann unter Umständen den gegenteiligen Effekt erzielen. Ich könnte Ihnen zur Grippeabwehr hundert Mittelchen der Pharmaindustrie verkaufen. Aber“ – sie senkte den Ton und beugte sich zu Dr. Hohenadl hin – „ich helfe hier nur aus und will Ihnen eines sagen: Was hilft, ist Hühnersuppe. Das wussten schon die alten Ägypter. Seit tausenden von Jahren ist Hühnersuppe das beste Mittel. Sagen Sie mir Ihre Adresse und ich schicke Ihnen das Rezept.“
Dr. Hohenadl bedankte sich überschwänglich. Wieder einmal hatte er mit seiner Hilflosigkeit bei einer älteren Dame die besten Instinkte geweckt. Er bekam das Rezept, las es durch und fühlte sich zunächst stark überfordert, mobilisierte aber dann doch alles, was er an Mut aufbringen konnte und sammelte an den Ständen auf dem Naschmarkt sämtliche Ingredienzien zusammen, wie sie im Brief der Apothekerin aufgelistet waren: das Suppenhuhn, die Zwiebeln, die Karotten, den Sellerie, die Lauchstangen und die Lorbeerblätter. Zum Glück besaß er einen Topf, in dem das bleiche, glitschige Tier, das seine Beinstümpfe vom Körper wegstreckte, Platz hatte. Immer wieder las er ängstlich im Brief der gütigen älteren Apothekerin nach, um nur ja nichts falsch zu machen. Die Kochzeit von über zwei Stunden erschien ihm wie eine Tortour. Er wagte es nicht, sich vom Herd wegzubewegen und hob immer wieder den Topfdeckel, um zu kontrollieren, ob die Oberfläche des Inhalts nicht etwa zu stark oder zu schwach blubberte. Die Spannung stieg, als er am Ende den Vogel aus dem Topf nahm und ihn mit einem Messer bearbeitete. Das Fleisch fiel aber wie von selbst von den Knochen. Dr. Hohenadl verbrannte sich die Zunge, weil er es nicht erwarten konnte, die Suppe zu probieren. Immer wieder füllte er seinen Teller. In seinem gesteigerten Selbstbewusstsein redete er sich ein, noch nie so gut gegessen zu haben. Als er keinen Löffel mehr hinunterbrachte, war der Topf noch nicht einmal halbleer. Es beschlich ihn ein Bedauern, das er noch nie empfunden hatte: Eine Familie, wenigstens eine Kleinfamilie, wäre jetzt das Richtige, dachte er.
Wochenlang ernährte sich Dr. Hohenadl von Hühnersuppe, bis er herausfand, wie er, ohne zum Verschwender zu werden, Pausen einlegen konnte: Er fror die übrig gebliebene Suppe ein. Nun konnte er das Programm durchziehen, das er sich nach dem Besuch der drei Apotheken vorgenommen hatte: ein Tag Fischöl, den nächsten Nasenspülung und am dritten Hühnersuppe. Und der Erfolg stellte sich tatsächlich ein. Während andere im darauf folgenden Winter mit Grippe darniederlagen, kam Dr. Hohenadl unbeschadet durch die gefahrvolle Jahreszeit. Erst im April erwischte ihn die Infektion und er musste zwei Wochen lang das Bett hüten. Nur zwei Wochen. Sonst hatten diese Grippeattacken mindestens drei Wochen gedauert. Er führte den Erfolg auf sein ausgeklügeltes Gesundheitsprogramm zurück, das er, um es nicht egoistisch für sich zu behalten, in einem ausführlichen Leserbrief öffentlich machte.