Das Kind, das – was eigentlich?
WINTERFEST / THÉÂTRE D’UN JOUR
06/12/12 Mit großen Augen schaut das „Kind“ durch die Brille unverwandt auf die Dinge, die da passieren. Und auf die Besucher. Man fühlt sich von dem Puppen-Ding mit starkem Charisma irgendwie kritisch beobachtet, möchte fast die Augen abwenden, weil der Blick so unverwandt ist.
„L’enfant qui“ heißt die Produktion der belgischen Gruppe „Théâtre d’un jour“, die nun das üppige Winterfest-Programm komplettiert. Winterfest-Macher Georg Daxner spart ja nicht: vier Spielorte, vier Parallell-Produktionen über vier Wochen. Ist jede dieser Cirque nouveau-Aufführungen für jedermann geeignet, ist jeder Abend auf seine Weise dazu angetan, tiefenpsychologische Sogwirkung zu entfalten und die Besucher hinein zu ziehen in die jeweils individuelle Handschrift circensischer Gestaltung – und noch mehr in die Magie der Gedanken?
Natürlich nicht. Gerade der Anspruch des Cirque nouveau, nicht nur oberflächlich attraktive artistische Geschichten zu erzählen, sondern gleichsam subkutan Botschaften zu übermitteln, setzt eine gewisse Gleichgestimmtheit zwischen Sendern und Empfängern voraus. Der Pocket-Radio taugt nicht für große Gefühls-Oper, ebensowenig wie der Laptop für Hollywood-Cinemascope.
Der Schreiber dieser Zeilen hat am Mittwoch (5.11.) bei der Premiere von „L’enfant qui“ 45 Minuten lang vergeblich am imaginären Rad gedreht. Die passende Wellenlänge wollte sich nicht finden. Mag sein, dass das „Théâtre d’un jour“ eine große Geschichte erzählt: von einem Kind, das etwas steif wirkt, wie vorzeitig erwachsen geworden. Es nimmt die Geschehnisse um sich herum wahr, wundert sich – und steckt sie mutig weg. Da sind zwei Männer, die Beile schwingen, dass einem Angst und Bang wird. Zwischen den beiden Muskelprotzen nimmt sich die Artistin zerbrechlich aus. Es könnte leicht sein, dass sie sich von den beiden Männer gar nicht freiwillig in die Luft schleudern lasst. Fast wirkt es wie eine Nötigung, wenn sie auf rohen Holzstangen balanciert, die die beiden Kerle mit urtümlicher Kraft in Position bringen. In einer Szene liegt das Kind/die Puppe (natürlich mit seiner Führerin Noémie Vincart) auf einem rostigen Eisenbett und die drei Artisten stürzen auf bedrohliche Weise auf die Bettstatt nieder. Manchmal tragen die Akteure Masken.
Das alles hat Stil, so wie die düsteren Erdfarben, die die Kostüme bestimmen. Von Krankheit wird erzählt und (vielleicht) davon, dass eine etwas düstere Kindheit letztlich doch auch überwunden werden kann. Der Bildhauer Jephan de Villiers hat da angeblich autobiographische Erfahrung eingebracht, vielleicht einen Schuss Trauma. Hoffentlich geht es ihm nach dieser theatral-künstlerischen Selbstverwirklichung besser. Die Cellistin Claire Goldfarb spielt unverdrossen, nicht nur lautmalerisch, sondern auch ganz echten Bach. Das spendet alleweil Trost.
So ist das also - oder auch ganz anders. Ein wenig düster, und mit eigenwilligem Ausgang. Da verliert das Kind/die Puppe den Kopf. Er wird ersetzt durch eine winzige Maske. Ähnliche Gesichter sind auf Holzstäbe aufgemalt, die Püppchen gleich ins Pferdestall-Streu gesteckt werden: Familienaufstellung heißt das in der Psychologie. Eine Methode, die nicht ganz unumstritten ist.