Das Wildkätzchen und die Menschenkenner
LANDESTHEATER DER BESUCH DER ALTEN DAME
22/11/24 Theoretisch brauchte es eine deutlich größere Bühne als jene in den Kammerspielen des Landestheaters: Schließlich ist da ein ganzes Dorf versammelt. Man wartet auf den Besuch der Alten Dame nicht ohne Hintergedanken: Die Frau ist in der weiten Welt zu Ehemann und Reichtum gekommen. Ihr Geld könnte man jetzt gut gebrauchen im verarmten Örtchen Güllen.
Von Reinhard Kriechbaum
Aber die Kammerspiel-Bühne ist dann doch groß genug, denn Regisseur Josua Rösing hat die Personnage in Friedrich Dürrenmatts als „tragische Komödie“ bezeichnetem Klassiker drastisch reduziert. Wen braucht es unbedingt im Dörfchen? Den Bürgermeister (Lisa Fertner) natürlich, den Pfarrer (Tina Eberhardt) und den Lehrer (Axel Meinhardt) ebenso. Diese drei – also das Stimmung und Meinung machende „Establishment“ in dieser „piccolo mondo“ – schlüpfen dann auch in die verschiedenen kleineren Rollen. Das Personal der reichen Witwe, vom Butler Boby über die Kaugimmikauer Toby und Roby bis zu dem blinden Pärchen Koby und Loby, ist überhaupt auf einen mageren Kerl zusammengeschrumpft: Matthias Hermann.
Und dann braucht's natürlich jenen Herren, der es einst recht lustig hatte mit Claire, als diese noch knackige siebzehn und für ihn, Alfred, ein verlockendes „Wildkätzchen“ war. Eine Traumrolle für Christoph Wieschke, hinter dem man ja den Biedermann schlechthin vermutete, schon als er 2009 als Faust im Landestheater debütierte. Über diesem ur-braven Alfred, der es unterdessen zum Dorf-Krämer und Bürgermeisterkandidaten gebracht hat, bricht nun eine kleine Welt zusammen. Denn bekanntlich spitzt das ganzes Dorf auf das Geld der Heimgekehrten. Claire ist auch gerne bereit, eine Milliarde zu spendieren. Aber die Sache hat einen Haken: Sie, das einst ohne Erbarmen ins Ungewisse geschickte schwangere Mädchen, ist durchdrungen von unbändigen Rachegelüsten. Das Geld gibt’s nur, wenn jemand aus der Dorfgemeinschaft Alfred ins Jenseits befördert. Der ausgleichenden Gerechtigkeit wegen.
Mäzenatentum gegen Mord – was für ein Deal! Vom Bürgermeister abwärts ist da zuerst keiner, der dies nicht entrüstet ablehnte. Aber im Verlauf von eindreiviertel Stunden erlebt man eindrucksvoll, wie ein ganzes Dorf die Moralkeule gegen echte Keulen eintauscht. Es beginnt damit, dass alle „anschreiben lassen“ beim Krämer, weil sie ihre geheime Seelenschwärze und jene der Mitbewohner ganz richtig einschätzen: Es wird sich schon ein Mörder finden. Selbst der Pfarrer schafft auf Pump eine neue Kirchenglocke an. Friedrich Dürrenmatt war Schweizer durch und durch, deshalb wird der Mordbeschluss am Ende basisdemokratisch gefasst.
Britta Bayer ist die alte Dame. In tiefem Schwarz kommt sie daher, mit güldenem Mieder und einem sagenhaften Hut, der sie gut auch vor einem Wolkenbruch schützen würde. Aber sie wird dann zu einem luftigen weißen Sommerkleid wechseln, denn da sind ja auch positive Gedanken.Einigemale treffen Claire und Alfred zusammen, und da blitzt sogar so etwas wie verklärende Erinnerung auf. Mit dem Wort „Hassliebe“ liegt man nicht ganz falsch.
So bizarr, voller Situationskomik Der Besuch der alten Dame daher kommt, hat dieses Stück – nicht zu Unrecht eben ein Klassiker aus der Mitte des 20. Jahrhunderts – auch ruhige, intensive, berührende Dialoge. Der Lehrer muss sich erst Mut antrinken, bevor er bei Platon einhakt und mit betont zaghafter „Donnerstimme“ zu einem hilflosen Plädoyer für Humanismus anhebt.
Josua Rösing hat feine Psychogramme gezeichnet und lässt das Ensemble sicher balancieren auf dem feinen Grat zwischen Ironie und abgründiger Bosheit. Ein Trick: Er lässt auch alle Regieanweisungen mitsprechen, was manchen Witz überhöht, dem Geschehen aber auch einen quasi-dokumentarischen Touch gibt.
Die Fragen nach Moral und Gerechtigkeit werden schließlich mit großem Ernst abgehandelt, ohne dass der leichte, verspielte Komödienton auf der Strecke bleibt. Man geht nicht raus aus dem Theater, ohne über die politische Weltlage nachzudenken. Die Trump- und Kickl-Wähler, „Abgehängte“ wie die Bewohner des imaginären Städtchens Güllen – sind die nicht auch gerade im Begriff, abzugleiten in sinistre Deals zugunsten vage erhofften Wohlstands? Die alten Damen kommen heutzutage eher als starke weiße Männer daher...