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Pulverland ist abgebrannt

GRAZ / DIAGONALE / MAIKÄFER FLIEG

09/03/16 Die Schachtel mit den gläsernen Christbaumkugeln ist heil geblieben beim Bombenangriff. Gelegentlich, wenn die Wirklichkeit geradezu unglaublich scheint, wird Christine sie vor Augen halten – und dann wird die Welt ein wenig anders aussehen.

Von Reinhard Kriechbaum

Jedenfalls wird sie anders aussehen als Christine (die die Welt nicht anders kennt als im Krieg), ihre Mutter und ihre Großeltern sie in der Realität wahrnehmen. Man klettert aus dem Luftschutzbunker und findet die Wohnungn ausgebombt. Mutter und Kinder retten sich aufs Land, in eine Villa in Neuwaldegg. Der von der Hitler-Armee desertierte Vater kommt verwundet heim und muss versteckt werden. Die Russen-Front nähert sich...

Der autobiographische Roman „Maikäfer, flieg“ von Christine Nöstlinger aus dem Jahr 1973 konfrontierte mit Erinnerung, und zwar über ein Jahrzehnt, bevor mittels eines erinnerungslosen Bundespräsidenten der kollektiven Erinnerung in Österreich auf die Sprünge geholfen wurde. Vielleicht war „Maikäfer, flieg“ genau deshalb ein Bestseller. Wahrscheinlich aber mehr deshalb, weil es schon damals nicht Christine Nöstlingers Art war, auf- oder abzurechnen. Wenn es eine Botschaft in dem Buch gibt, dann die: Es gibt keine Lebenssituation und keine äußeren Umstände, die dagegen sprächen, offen, aufnahmebereit, neugierig, vorurteilslos zu sein. Doch mit einer solchen Sehweise steht man zwangsläufig gegen die allgemein durchgesetzte Meinung.

Zur Eröffnung der Diagonale in Graz am Dienstag (8.3.) wurde die Verfilmung der Regisseurin Mirjam Unger uraufgeführt. Ist es nicht ein eigentlich hoffnungsloses Unterfangen, Nöstlingers präzisen, gerade nicht direkt-emotionalen Erzählstil ins Bild zu setzen? Die Emotion ist der Knackpunkt, ohne die kommt ein Film nicht aus. Drum darf man „Maikäfer flieg“ (im Filmtitel ohne Beistrich) ausschließlich aus sich selbst heraus und nicht vom Roman aus werten. Der Film: großes Gefühlskino, in schauspielerischen Höchstleistungen ankernd und abgesichert mit detailverliebter, immens genau arrangierter Ausstattung. Und schließlich eingefangen von der brillanten Kameraführung Eva Testors.

Da wandert also Christine – der draufgängerische Blondschopf Zita Gaier – mit großen Augen durch die Reihen der besoffenen russischen Soldaten, eine Herausforderung für die vom Leben gezeichnete Mutter (Ursula Strauss), die manche Tirade auf die unfolgsame Tochter herunterprasseln lässt. Präzise herausgearbeitet ist die Überforderung der Menschen, besonders genau exemplifiziert am Verhältnis zwischen den Eltern (Gerald Votava ist der Vater). Nicht mal in Blicken begnen die beiden einander. Sehr konsequent aus der Perspektive des Kindes erleben wir episodenhaft die Monate unmittelbar nach Kriegsende.

Zu einem Mann in den Reihen der Russen, dem Koch Cohn, gewinnt Christine Zutrauen. Es geht sehr um Stimmung, ums auratische Empfinden.

Ein zweiter Film als Uraufführung am ersten Tag der Diagonale: „Hannas schlafende Hunde“ von Andreas Gruber. Auch da ein Mädchen in zentraler Rolle. Warum scheele Blicke der Nachbarn, eigenartige Frage der Religionslehrerin, offene Anfeindung und Nachstellungen des Hausbesorgers? Warum das verbitterte, ja verbiesterte Schweigen der Mutter? In dem Film, der auf einer Romanvorlage der Salzburgerin Elisabeth Escher beruht, wird im Lauf von 124 Minuten die Vergangenheit aufgedeckt. Die einen, Hannas Mutter und Großmutter (charismatisch: Hannelore Elsner), haben verinnerlicht, nur ja nicht aufzufallen in einer Gesellschaft, die den Hass auf Juden quasi mit der Muttermilch eingesogen hat. Die Handlung spielt in Wels, in einer typischen Siedlung von Heimatvertriebenen. Auch das ein Film mit wahrhaft großen emotionalen Attacken. Und ein Film, in dem der ratlose, Rat suchende aber keinen Halt findende Blick der Hauptdarstellerin im Kopf bleibt: Was kann man Kindern mit Schweigen antun!

„Maikäfer flieg“ - ab kommendem Wochenende (11.3.) in den österreichischen Kinos – www.kgp.co.at - „Hannas schlafende Hunde“ kommt Anfang April ins Salzburger Filmkulturzentrum „Das Kino“ – www.thimfilm.at
Bilder: kgp production (2); Thimfilm (1)

 

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