Familien-Aufstellung mit Gespenstern
REST DER WELT / LINZ / FAMILIENFESTE 1&2&3
12/10/15 In Rom tagen gerade die katholischen Bischöfe zum Thema Familie. Angeblich sind ja in dieser kleinsten gesellschaftlichen Einheit alle Positiva des Humanum zu fokussieren. Wie arm wäre das Theater, wenn dem auch nur annähernd so wäre!
Von Reinhard Kriechbaum
Regisseur Armin Holz lässt uns aber ganz beruhigt zurück: Der Tanz der Gespenster, die aus verqueren Beziehungen herauswachsen, geht so rasch nicht zu Ende. Zwischendurch darf man schon den Atem anhalten in dieser Familien-Geisterbahn. Gespenster, wohin man schaut, bei Henrik Ibsen („Gespenster“), bei Virginia Woolf („Mrs Dalloway“) und bei Paul Abraham und seinen Textdichtern der Zwischenkriegszeit („Viktoria und ihr Husar“).
Ibsen, das ist der expressionistische Teil im Trio infernal an Familienaufstellungen, die Armin Holz in den Kammerspielen des Linzer Landestheaters nebeneinander gestellt, aber dezidiert nicht miteinander verwoben hat. Unkontrolliertes Kichern, bizarre Verrenkungen – alle Anzeichen von Hysterie nach Freud'scher Analytik. Die Jahre des Schweigens haben Seelenverwüstungen hinterlassen, nicht nur bei Helene Alving (Anne Bennent), die sich ob der Dauer-Untreue ihres Mannes seinerzeit Pastor Manders (Klaus Christian Schreiber) anvertraut hat. Das war deutlich mehr als ein Schutz-Suchen. Auch diese Beziehung kommt also jetzt mit Vehemenz wieder zurück, zusätzlich zu jenen Gespenstern der Vergangenheit, die der totkranke Sohn und das angebliche Dienstmädchen – in Wirklichkeit seine Halbschwester – durch ihre Liebe zueinander wachrütteln.
In seiner klugen Strichfassung arbeitet Armin Holz die so verheerende wie allgegenwärtige seelische Nähe zwischen der Witwe und dem Pastor heraus, indem er die körperliche Bezogenheit der Figuren aufeinander radikal sichtbar macht. Es wird berührt, gegrapscht, auch Küsse ringt der Pastor der vermeintlich Schutzbefohlenen ab: Psychoanalyse in handgreiflicher Dimension. Zuletzt: Was für ein hilfloser, Verzeihen heischender Blick des Pastors, wenn er noch einmal kehrt macht und stumm vor Helene kniet. Sie sitzt da auf einem güldenen, thronartigen Sitzmöbel: So allein kann man bleiben im Gefängnis-Hort Familie.
"Wie ich hinter meinen Figuren schöne Höhlen ausgrabe", hat Virginia Woolf ihrem Tagebuch anvertraut, als sie an "Mrs Dalloway" arbeitete. Ihre Psycho-Höhlen dieses Romans drängen sich nicht auf für eine Bühnenumsetzung. Zu den durchgängigen Ausstattungsstücken – einem stilisierten Baum, einem Stein rechts vorne – kommen hier noch ein riesiges Pappgehirn dazu und eine steile Metallstiege. Es ist die sperrige Gehirnganglien-Episode des weit über vierstündigen Abends. Der Roman ist auf 35 Sprech-Minuten doch zu sehr eingekocht.
Wieder sind Anne Bennent und Klaus Christian Schreiber (die prominenten Gäste für diese so ausufernde wie ehrgeizige Produktion in Linz) die eng vertrauten Gegenspieler. Bei Virginia Woolf ist es die Nicht-Familien-Aufstellung, die zum Problem wird. Denn zum Ehepaar sind Clarissa und Septimus Warren Smith ja nicht geworden. Jetzt ist er aus der indischen Kolonie heimgekehrt und schneit in Clarissas Abendgesellschaft hinein. Was sie denken, fühlen, zueinander (nicht) sagen: Das nimmt sich zwischen den "Gespenstern" und "Viktoria und ihr Husar" staubtrocken aus.
Zuletzt die Operette aus jener Ära des Genres, die man abschätzig "blechernes Zeitalter" nennt. "Viktoria und ihr Husar" ist 1930 entstanden. Da war der Erste Weltkrieg noch in den Köpfen, aber – dafür war der Komponist Paul Abraham ein Spezialist – der Jazz aus der neuen Welt schon in den Ohren. Von Grodek, einem der verheerendsten Schlachtfelder, ist die Rede. Dort, glaubt Viktoria, sei ihr Verlobter gefallen. Nun ist das in die Jahre gekommene Ungarn-Mädel Ehefrau eines amerikanischen Diplomaten. Im fernen Osten kommt es zufällig zur Begegnung mit dem Husaren-Rittmeister, der doch nicht tot ist. Damit dieses Paar dann doch zusammen kommt, braucht es eine beinah dadaistisch anmutende Story, die dann auch noch in St. Petersburg und natürlich zuletzt in einem ungarischen Dorf spielt. Das wirkt, so man sich nicht einlullen lässt von Schlagern wie "Mausi, süß warst du heute Nacht" oder "Meine Mama stammt aus Yokohama", beängstigend visionär: Flucht und Exil sind nur einige Jahre später für den Komponisten und für einen der beiden Textdichter, Alfred Grünwald, bedrohliche Wirklichkeit geworden. Der zweite Autor, Fritz Löhner-Beda, ist in Auschwitz umgekommen.
So eng Armin Holz bei Ibsen die Figuren aneinander gekettet hat, so weit stehen sie hier – ausgerechnet in der Operette! – voneinander entfernt. Klaus Christian Schreiber ist jetzt der Rittmeister. Wirres Haar, grimmiger Blick. So umkreist er Viktoria, die ihm vermeintlich untreu geworden ist. Mit dem Mut der Verzweiflung spielt dieses alternde Ungarn-Mädel das Gestenrepertoire des Genres durch, aber ihr Blick bleibt verhärmt, die Liebes-Lebensperspektive scheint ausgeblendet. Diese Rolle ist in dem Portfolio der drei Rollen das Filetstück für Anne Bennent, die sich auch singend mehr als gut schlägt. Klaus Christian Schreiber ist ja ohnedies ein ausgewiesener Musik-Theatraliker, um seine weichen Tenor-Töne kann ihn mancher Fachkollege beneiden.
Die Musik ist reduziert auf ein Zwei-Personen-Orchester (Akkordeon, Saxophone plus ein paar andere Instrumente). Manches wird überhaupt völlig unbegleitet gesungen. Da ist aller Speck weg – aber bemerkenswerterweise nicht der Charme. Man sieht und hört "Viktoria und ihr Husar" an, dass der Regisseur zwei Jahre in Wien studiert hat. Jedem der Stücke hat Armin Holz charakteristischen Touch gegeben, jedem seinen eigenen Stil, nichts über einen Kamm geschert. Vielleicht gerade deshalb ist das Ganze deutlich mehr als seine Teile.