Bühnentod auf dem Friedhof der Fakten
REST DER WELT / STEIRISCHER HERBST / HITLER, MEIN KAMPF
02/10/15 Dass ausgerechnet der Blinde aus „Mein Kampf“ vorliest, hat schon fast metaphorische Anmutung. Mit den Fingern tastet er über die Braille-Schrift des in dieser Version riesenhafen, an Messbuch-Dimensionen erinnernden Schmökers. Einmal wird er von einem aus der Bühnen-Truppe aufgefordert, etwas mehr Power einzubringen, auf dass es wirklich „authentisch“ klinge. So, wie wir Hitler eben aus Aufnahmen im Ohr haben...
Von Reinhard Kriechbaum
„Das Kapital“ von Marx haben sie schon auf ähnliche Weise auf der Bühne abgehandelt. Nun, beim „steirischen herbst“ in Graz, ist Hitlers „Mein Kampf“ dran. Helgard Haug und Daniel Wetzel haben, so scheint's, eine theatrale Anthologie ungelesener Bücher vor. Zumindest mit schlechtem Gewissen gelesener. Kaum jemand wird ja hinausposaunen, dass er es durchstudiert, womöglich gar daheim stehen hat. Bei einer Gesamtauflage von 12,5 Millionen zu Kriegsende liegt aber die Vermutung nahe, dass viel, viel mehr Exemplare herumgeistern, als man wahrhaben möchte.
„Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1&2“ wurde fürs Kunstfest Weimar erarbeitet und dort Anfang September uraufgeführt, jetzt eingekauft vom „steirischen herbst“ und im Grazer Schauspielhaus präsentiert. „Rimini Protokoll“ heißt das Theaterunternehmen von Helgard Haug und Daniel Wetzel. Und in Deutschland, wo man bestimmt, wie gutes und brandaktuelles Theater auszusehen hat, wird es hoch gehandelt.
Hinter „Rimini Protokoll“ steht kein Schauspielensemble. Helgard Haug und Daniel Wetzel frönen dem dokumentarischen Stil. Sie recherchieren auf eher journalistische Art und suchen nach Menschen – in diesem Fall nach solchen, die eine Fern- oder Nahbeziehung zum Hitler-Buch haben. Und die stehen dann auch auf der Bühne. Von den Theaterleuten mehr oder weniger an-, aber auch nicht vor-geführt. Und (das muss man sehr betonen) sie sind auch keine eitlen Selbstdarsteller.
Jede und jeder hat etwas Sachliches zu sagen. Sibylla Flügge, eine universitäre Frauenrechtlerin, hat in ihren wilden Vor-68er-Jahren „Mein Kampf“ exzerpiert, lose gebunden und ihren Eltern verehrt. Kein willkommenes Weihnachtsgeschenk in der Pastorenfamilie. Alon Kraus ist Rechtsanwalt in Israel. „Mein Kampf“ hat der polyglotte Typ auf Englisch, Hebräisch und Deutsch gelesen. Matthias Hageböck ist Buchrestaurator in der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, Anna Gilsberg ist eine Jung-Juristin mit Schwerpunkt Sozial- und Völkerrecht. Sie liest das Buch der Unbücher nach einem Gratis-Download am Handy und ist schon (oder erst?) auf Seite 211. Der blinde Christian Spremberg ist Brailleschriftredakteur und war auch Radiojournalist. Mit sensiblen Fingerkuppen geht er mit Hitler um.
Und dann ist da noch der Rapper Volkan T Error, in Deutschland verschrieen als Wegbereiter für den türkischen Hip Hop und Hardcore. Ein hauptberuflicher Anecker mit Migrationshintergrund und Musik-Knowhow.
Ein attraktives Menschengrüppchen also. Was könnte man mit dramaturgischem Geschick und selbst kleinen Portionen Mut und Aufsässigkeit mit denen anstellen! Aber aufrütteln durch provozieren? Helgard Haug und Daniel Wetzel haben es scheint's mit der Angst zu tun gekriegt oder ihren Theatersinn gleich vorsorglich mit einer ultra-starken Dosis political correctness weichgespült.
So erleben wir Gespräche und eingeübte Diskussionen der Bühnentruppe, einen Gesprächsabend auf minimalistisch gemeinsamem Nenner im Umgang mit Hitlers Buch. Im Grunde ist es ein Hörspiel in Dekorationen (Bücherwänden mit einigen Zutaten), eine über 120 Minuten sich hinschleppende Schulfunksendung.
Oh ja, viel gelernt an dem Abend. Quasi zwischen den Zeilen des öffentlich Zu-Tode-Diskutierten Dinge entdeckt, aus denen man sogar für die Bühne etwas gewinnen hätte können, wenn man sich denn getraut hätte. Vielleicht war ist ja nur der Anteil an Rechtskundigen unter den Laiendarstellern zu hoch. Sie bringen professionell ihre Gedanken ein, ob und wie man überhaupt öffentlich über „Mein Kampf“ reden darf. Kann man das Buch so ohne weiteres einer Dame im Parkett runterreichen? Andere Länder, andere Gesetze.
Ach ja: Mit Anfang nächsten Jahres wird „Mein Kampf“ gemeinfrei, man darf es dann nachdrucken, wenn man denn im jeweiligen Land darf. Hoffentlich gehen potentielle Neu-Veröffentlicher dann auch so skrupulös vor wie hier „Rimini Protokoll“ auf der Bühne.