Kein Brett, die Weltesche vor dem Kopf
REST DER WELT / GRAZ / MERLIN ODER DAS WÜSTE LAND
25/09/15 „Das wüste Land“ wird im Grazer Schauspielhaus umfänglich durchgeackert. Sitzfleisch braucht man für Dankred Dorsts „Merlin“ und Vorkenntnisse der Artussage schaden natürlich nicht.
Von Reinhard Kriechbaum
Der runde Tisch, die Basis aller Gespräche und Diskussionen auf gleicher Augenhöhe wäre eine so tolle Sache, und einer der Tischler hätte ja auch das optimale Maß dafür errechnet: Zwölf Meter Durchmesser, weil „es geht um den Durchschnitt der durchschnittlichen Ritter“, wie es so schön heißt im Text von Tankred Dorst. Und dann wird es auch wirklich ein runder Tisch – aber der läuft nur wie ein schmales Band um einen riesigen Baumstamm. Da kann man dem Gegenüber erst recht nicht in die Augen schauen und die Ritter an König Artus' Tafel müssen im Ernstfall ihre Ideen für eine bessere Welt als Stille Post im Kreis schicken.
Kein Brett, sondern gleich die Weltesche vor dem Kopf? Um die an menschlicher Unzulänglichkeit scheiternde Weltverbesserungs-Utopie geht es ja in Tankred Dorsts „Merlin oder Das wüste Land“. Merlin, die Ausgeburt des Teufels, soll das Böse tun, will gerade das partout nicht, scheitert aber am Guten kläglich. Im Grazer Schauspielhaus, wo die neue Intendantin Iris Laufenberg das fast komplett runderneuerte Ensemble für Tankred Dorst zum Saisonauftakt ins Rennen schickt, sind Merlin deren zwei: eine charismatische hölzerne Gliederpuppe und ihr Fädenzieher Michael Pietsch. Der ist eben nicht nur Marionettenspieler, sondern auch Schauspieler. Sprechtechnisch ist er besser drauf als die meisten anderen auf der Bühne, um gleich einen wunden Punkt dieser Produktion anzusprechen.
Auf diese Merlin-Marionette reden gelegentlich alle ein (das Ensemble als Teufelsgruppe, zu der Merlin „Papa“ sagt). Die Puppe wird bei Artus' Krönung als Einflüsterer auf der linken Schulter des Königs hocken, und sie wird ganz am Ende hinten oben resigniert auf dem Baumstumpf des längst gefällten Welten-Baums sitzen. In den dreieinhalb Stunden (Nettospielzeit) dazwischen: bildmächtige Szenerien, lustvolle Gruppen-Improvisationen, eine durchaus draufgängerische Mixtur aus dick aufgetragener Hintersinnigkeit und naiv ausgespieltem, gelegentlich ins Kraut schießendem Klamauk. Das kann überrumpelnden Charme haben (insbesondere in den Marionettenszenen), aber auch extreme Längen. Denen haben sich manche Premierenbesucher schon in der Pause entzogen.
Regisseur Jan-Christoph Gockel schreibt uns den Denkstoff nicht vor, er hat sich eher assoziativ denn planvoll ans Kürzen und Neu-Zusammenstellen des Text-Molochs gemacht. Das Kaleidoskopartige der Vorlage bleibt erhalten, wird eher noch aufgefettet durch Anspielungen auf Tagesaktualitäten. Der Regisseur ist ein Märchenerzähler, der stark auf Assoziationen setzt. Knackige Didaktik, gar inhaltliche Zuspitzung ist seine Sache nicht.
An einem Abend wie diesem schaut man natürlich mit doppeltem Interesse auf die neuen Gesichter im Ensemble. Da ist als erste Julia Gräfner zu nennen. Als Parzival gibt sie einen Pfundskerl von reinem Tor, tollt sie scheinbar tolpatschig und doch so gelenkig über die Bühne. Auch als Elaine (die in der Verkleidung von Ginevra Lancelot ins Bett zieht) hat sie einen entwaffnend naiven Blick drauf. Florian Köhler (einer der wenigen „Alten“ im Ensemble) ist Lancelot, den er differenziert zwischen verlegen und verschlagen anlegt. Mit E-Gitarre gibt er einen ritterlichen Popstar ab. Lancelot hat was mit der gertenschlanken Ginevra (Evamaria Salcher spielt sie etwas unterkühlt), der arme König Artus muss schon sehr konzentriert wegschauen, um nichts sehen zu müssen. Fredrik Jan Hofmann nimmt man in dieser Rolle jederzeit ab, dass er nicht der geborene, sondern erst zum Herrschen und zum Weltverbessern zu überredende, bis zuletzt irgendwie pausbäckig wirkende König ist. Diesen Artus zu führen, hat Merlin wirklich zu tun!
Die üppige Personage von Tankres Dorsts Vorlage ist stark dezimiert, acht Darsteller schupfen das Ding. Michael Pietsch führt nicht allein die Marionetten, er hat auch die Kollegen wohl instruiert in dieser Kunst. Neben der Puppe Merlin ist Galahad, Spross von Lanzelot und Elaine, ein so gesprächiger wie allgegenwärtiger Fäden-Kumpan auf der Bühne. Als Marionettenspiel sehen wir nicht nur einen feuerspeienden Drachen, sondern auch, was Ginevra und Lanzelot so treiben. Das ist nicht ganz jugendfrei. Eine Szene mit viel Blechgerassel ist jene, in der Parzival dem Roten Ritter die Rüstung abluchst. Drei Leute und einen Seilzug braucht es, um die rasselnde Blechmarionette zu bewegen und dann verbluten zu lassen.
Einmal sitzen die Protagonisten um die Weltesche, ein jeder monologisierend mit sich und seinen größeren und kleineren Schwächen und Fehlleistungen beschäftigt: Die Drehbühne kommt zu Einsatz, und so wird dies ein Mega-Ringelspiel der menschlichen Unzulänglichkeit. „Faschingszauber der Metaphysik“ heißt es einmal im Text.