Tanz-Wut in Reinkultur
OPER GRAZ / BALLETT / FOLLIA!
08/04/25 Ganze Städte könnte man erhellen mit dieser Energie! Pure Lust an der Bewegung. Keine Geschichte. Reine Ekstase: Die Ballett-Produktion Follia! in der Oper Graz ist mitreißend. Tanz-Wut in Reinkultur.
Von Heidemarie Klabacher
Es tobt die Truppe – Wirbelwind oder Tsunami – über die Bühne. Die Tänzerinnen und Tänzer im geschlossenen Pulk, Körperwellen schlagend. Der vielgliedrige Organismus scheint jenem Naturgesetz zu folgen, das auch Fisch- oder Vogelschwärme in geschlossener und sich doch ständig verändernder Formation durch Meere und Lüfte ziehen lässt.
Bis ein „Element“ ausbricht, sich allen anderen wie ein Wellenbrecher in den Weg stellt und die Formation aufbricht. Die Fliehkraft lässt Zweier- oder Dreier-Elemente zurück, die alsbald wieder im Kollektiv aufgehen. Auch Solisten, die für Augenblicke hervortreten, werden im Augenblick wieder von der Gruppe absorbiert. Das hat nichts von Zwang oder Gewalt – die archaische Sogkraft ist einfach stärker.
Gespeist werden Ausstrahlungs- und Anziehungskraft wesentlich von der Musik. Diese kommt wohl vom Band, aber nicht als Klangkulisse, sondern als quasi weitere, am Geschehen unmittelbar beteiligte Mitwirkende: Musik und Bewegung sind bis ins kleinste Detail aufeinander bezogen. Keine Bewegung, die nicht ihre direkte Entsprechung in der Musik, kein Akkord, der nicht sein Spiegelbild in einer Bewegung finden finden würde.
„Folia/Follia“ meint einen raschen lärmenden Volkstanz aus dem Portugal des 15. Jahrhunderts, meint aber auch Satzmodell und Harmoniefolge, die quer durch die Musikgeschichte, inklusive Klassik und Romantik, bis in die Gegenwart ihr Wesen treiben.
Die Produktion Follia! in der Oper Graz besteht aus zwei eigentständigen Teilen, die über Motive – vor allem über die passacaglia-artige Basslinie – des legendären Tanzes miteinander verbunden sind: Broken Lines und La Folia heißen die beiden Teile. Verantwortet werden diese von zwei verschiedenen Leitungsteams. Die einleitende Hymne oben gilt für beide.
Das baskisch-italienische Duo Iratxe Ansa und Igor Bacovich, zum ersten Mal in Österreich, schuf seine Choreografie Broken Lines zur Musik des amerikanischen Komponisten und Gitarristen Bryce Dessner: Zugrunde liegen drei der vier Sätze aus dessen Debütalbum Aheym, 2012 eigespielt vom Kronos Quartet. Diese ungeniert brutalistisch mit Vorgaben der Minimal Music spielende, im besten Sinne „wüste“ Musik wird vom exzellenten Soundsystem auf Opernhausgröße gesteigert und entwickelt per se einen ziemlichen Sog. Folia-Fetzen, Teile der Basslinie, aber auch sonstige Zitate Alter Musik, sogar einige wenige vokale Einsprengsel, lassen das Herz der Musikgeschichte-Freaks höher schlagen. Zum „Verständnis“ der mitreißenden Performance ist freilich keine Musikanalyse nötig.
Der zweite Teil heißt dann tatsächlich La Folia. Diesen schufen die Choreografin Maura Morales und der Komponist Michio Woirgardt quasi im ständigen Austausch miteinander. Auch hier wird keine „Geschichte“ erzählt, selbst wenn das Ganze seinen Anfang im Ballett- oder im Ballsaal nimmt, wo Paare eine höfisch zivilisierte Form der Folia tanzen. Freilich – und auch leider – nur einige wenige Takte lang.
Dann wird die uralte Form gebrochen, in der Kompostion wie in der Choreografie. Der Tanz wird wiederum zum Pandämonium gesteigert. Der Energie-Level in Musik und Bewegung liegt gegenüber dem ersten Teil beinah noch höher.
Kostüme und Licht werden von Silke Fischer und Igor Bacovich bei Broken Lines sowie von Maura Morales und Grace Morales Suso bei La Folia so markant wie zurückhaltend eingesetzt. Die tänzerische und konditionelle Leistung der Ballett-Truppe der Oper Graz kann nicht genug bejubelt und bewundert werden. Tatsächlich hat der Energiefunke einen Flächenbrand der Begeisterung im Publikum entfacht. Applaus und Jubel wollten – ganz zurecht – kaum ein Ende nehmen.
Follia! – sechs weitere Aufführungen in der Oper Graz bis 11. Mai – oper-graz.buehnen-graz.com
Bilder: Oper Graz / Andreas-Etter