Ein Kuss und dann ein Femizid hinter der Bühne

GRAZ / CARMEN

21/08/23 Ein letztes Mal erklärt Carmen – Elīna Garanča – das Ende der Beziehung, und da spiegelt sich in ihrem Gesicht sogar Mitleid mit Don José. Gerade so, als wollte sie zärtlich „Armer Narr“ sagen zu dem Verblendeten. Sogar einen Abschiedskuss haucht sie ihm auf die Wange.

Von Reinhard Kriechbaum

Solche Feinheiten in der halbszenischen Aufführung von Bizets Carmen auf der Grazer Schlossbergbühne hat wohl eher nur das Publikum in den vorderen Reihen in den Kasematten mitbekommen. Und natürlich auch jenes von ORF 3, denn die Premiere am Sonntag (20.8.) wurde zeitversetzt übertragen. Die Grazer Oper haut gerne auf den Putz im Sommer, indem sie auf die Schlossbergbühne in den Kasematten Prominenz einlädt. 2020 war das Bryn Terfel in Fidelio, im Jahr darauf Jonas Kaufmann in Tosca. Diesmal Elīna Garanča in der Titelrolle der Carmen und Ramón Vargas, für den der Don José in Graz ein Rollendebüt ist. Erwin Schrott als Escamillo, auch ein Name, der „zieht“.

Man könnte da – Stichwort Sommer-Event – rasch drüber gehen. Aber diese Carmen-Produktion hatte dann doch deutlichen Mehrwert. Der ist in diesem Fall von dem Dirigenten Marcus Merkel ausgegangen. Er war bis zum Vorjahr Kapellmeiste in Graz, jetzt ist er Chefdirigent am Theater Koblenz. Zu Bizets Instrumentationskünsten scheint er ein besonderes Naheverhältnis entwickelt zu haben, seit er in Graz Die Perlenfischer dirigiert hat. In einer quasi konzertanten Carmen-Wiedergabe wird man gerade in Szenen, in denen sonst das Bühnenbrimborium ablenkt, der Besonderheiten der Partitur gewahr. Mit welch malerischen Klängen doch die Tabakarbeiterinnen im ersten Akt ihre Pause antreten! Besonders plastisch und liebevoll hat Marcus Merkel die Ensembles in der Spelunke des Lilas Bastias herausgearbeitet, nicht nur vokal, sondern auch gediegen in den Orchesterfarben. Das „Spanische“ ist in Carmen quasi nur die Oberflächengarnitur. Der Duktus auch der Carmen-Musik ist französisch, wie nur. Und das bringt Marcus Merkel fein heraus.

Gerade im zweiten Akt auch war schön zu beobachten, wie sich Elīna Garanča ganz wunderbar einzufügen wusste ins Grazer Opernensemble. Da hat man mit der ukrainischen Sopranistin Tetiana Miyus – die Micaela – einen Talon ersten Ranges anzubieten.

Aber auch achtbare Qualität in den kleineren Rollen: Josephine Renelt (Frasquita) und Andzelika Wisniewska (Mercédès), Ivan Orescanin (Dancairo) und Mario Lerchenberger (Remendado) – eine solche Schurkenpartie mit Artikulationsgenauigkeit und Charme muss man auch erst zusammenbringen auf einer Länderbühne. Mit hoher Präzision gearbeitet auch die Chöre. Für Andrea Fournier, seit einem Jahr Salzburger Domkapellmeisterin, war das der Abschied von der Singschul', dem Kinderchor der Grazer Oper, der hier geradezu vorbildlich singt.

Klar, das Publikum kommt wegen Elīna Garanča. Die Carmen ist eine Partie, in der sie alles Statuarische, Unnahbare ablegt. Dass das Flirten für Carmen ein Spiel ist, das sie auch zur Selbstbestätigung braucht, bringt sie gut heraus, Auch, dass dieses Spiel gelegentlich zu aufrichtigem Mit-Empfinden für ihre „Opfer“ führt. Siehe Kuss in der Todesszene. Übrigens: Don José ersticht Carmen nicht vor dem Orchester (wie lächerlich sähe das wohl aus), sondern er verfolgt die Fliehende hinter die Bühne und kommt mit blutrotem Messer wieder zurück.

Überhaupt hat die Regisseurin Elisabeth Thym das szenische Geschehen klug und mit Understatement eingerichtet auf der kleinen Spielfläche vor dem Orchester. Spielszenen rund um ein paar Sitzgelegenheiten, alles ganz ökonomisch und eben nie ein Tun-als-ob.

Das Rollendebüt von Ramon Vargás als Don José: Er spielt sich neben der Garanča die Gefühlsskala rauf und runter, mit eher dunkel timbriertem Tenor, aber präsent in den Höhen. Auch er profitierte sehr von dem gediegen aufgefächerten Angeboten des Orchesters. Und Erwin Schrott als Escamillo: Bei so viel bühnenwirksamem Testosteron hört man doch gerne über so manche geknödelte Phrase hinweg.

Weitere Aufführungen am 22. und 23. August auf der Schlossbergbühne Kasematten Graz – spielstaetten.buehnen-graz.com
Bilder: Spielstätten Graz / Werner Kmetitsch