Chromosome und andere Vorurteile

GRAZ / SCHAUSPIELHAUS / VÖGEL

07/02/12 „Nicht die Wahrheit blendet Ödipus, sondern die Geschwindigkeit, mit der er sie erfährt.“ Das sagt der Großvater, der zusehen muss, wie sein Enkel mit allzu großer Vehemenz und Leidenschaft in die Gene seiner Familie eindringt. – Vögel von Wajdi Mouawad ist gerade ein Renner auf deutschsprachigen Bühnen.

Von Reinhard Kriechbaum

Großvater, Vater: Da wollen die Chromosomen nicht zusammengehen. Der Enkel muss es wissen, er ist schließlich Genetiker. Und genau deshalb muss er unbedingt wissen, was für ein Geheimnis da besteht in seiner Familie, in der vor allem der Vater sich mit fundamentalistischem Fanatismus als Jude geriert. Dass sein Sohn ein Verhältnis mit einer arabischstämmigen New Yorkerin hat, empfindet der Vater als Blutschande.

Wajdi Mouawad, 1968 im Libanon in eine christliche, syrisch-maronitische Familie hineingeboren, weiß was Entwurzelung ist: Nach Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs verließ die Familie ihr Heimatland, lebte einige Jahre in Paris, erhielt aber in Frankreich kein Bleiberecht. So zog man weiter nach Kanada. Erst seit wenigen Jahren lebt Wajdi Mouawad als Autor, Theaterleiter und Regisseur wieder in Paris.

In seinem Stück Vögel beschreibt er genau dieses Hin- und Hergeworfen sein. Wie setzen sich die Begriffe Heimat oder Exil, nationale Zugehörigkeit oder Religion in den Köpfen fest? Wie bestimmen sie den Gefühlskosmos jener Menschen, die da wie Vögel von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent gar fliegen? Ein Stück der Stunde angesichts von Flüchtlingsströmen aus der arabischen Welt nach Europa. Aber es ist auch ein Stück, das drängend die Frage nach der eigenen Identitätsfindung stellt, und dies mit der Unerbittlichkeit eines Antikendramas. Vögel ist eine multi-laterale, multi-ethnische Familiengeschichte in Vor- und Rückblenden. In tollkühner Verblendetheit, ein jeder in vermeintlicher Gewissheit seiner Abstammung, taumelt diese Familie zwischen Berlin, New York und Israel ihrem Schicksal entgegen. Der Optimismus des jungen Paars hält lange – und es ist doch das Scheitern vorgezeichnet.

Im Grazer Schauspielhaus hat der Musiker und Theatermann Sandy Lopičić, selbst ein deutsch/bosnisch/österreichisch Kultur-Grenzgänger, das Stück inszeniert, mit großer Geste und einem hohen Grad an Abstraktion, wie es dem Stoff zukommt. Ein Y-förmiger Glaskobel (Anspielung auf die Chromosomen, die da auch in Frage stehen?) hält Menschen gefangen. Zwischen drinnen und draußen ist so gut wie kein Kontakt möglich, denn die Scheiben sind beschlagen, innen und außen. Da können die Menschen beiderseits der Glasscheiben noch so viel wischen, es ist immer nur partielle Blicke auf die jeweils andere Seite möglich, kaum die Sicht aufs Ganze. Damit ist im Bühnenbild von Vibeke Andersen das Wesen dieses Theatertexts einprägsam gefasst.

Frieder Langenberger ist der junge Genetiker Eitan Zimmermann, der sich in einen familiär-nationalistischen Dauerkrieg verwickelt findet. Er und seine Freundin Wahida (Katrija Lehmann) stehen für eine Generation, die glaubt, weit genug weg zu sein von der Geschichte, um Herkunftsfragen verstandesmäßig zu lösen. Was für ein Irrtum! Matthias Lodd ist der Fundi-Vater, Susanne Konstanze Weber seine Frau, eine vermeintlich stramme Realistin aus dem ehemaligen Ostdeutschland. Charismatische Besetzungen vor allem für die Großeltern-Generation: Beatrice Frey (Kimhi) gibt sich exaltiert-versponnen, Gerhard Balluch (Etgar) steht für weise Zurückhaltung – einzig sie beide wissen um das Familiengeheimnis. Ob und wie sie es lüften, macht die Spannung des Stücks aus.

Aufführungen bis 19. März – www.schauspielhaus-graz.com Im Schauspielhaus Salzburg hat „Vögel“ am kommenden Freitag (14.2.) Premiere – www.schauspielhaus-salzburg.at
Bilder: Schauspielhaus Graz / Karelly Lamprecht