Das Ende der Freiheit? Unheil voraus sehen
GRAZ / DIAGONALE / ERÖFFNUNG
29/03/17 Der Müll wird von der Ladefläche direkt in die Sandwüste gekippt. Kinder und Ziegen stürzen sich auf die neue Fuhr Unrat, machen einander das noch Brauch- oder Essbare streitig. – Nicht die einzige Szene, die betroffen macht in Michael Glawoggers posthum geschnittenem Film „Untitled“. Österreichische Erstaufführung zur Diagonale-Eröffnung in Graz.
Von Reinhard Kriechbaum
Zuerst der Eröffnungs-Festakt: Johannes Krisch hat den Schauspielerpreis entgegen genommen. Bundespräsident Alexander van der Bellen wirkte inhaltlich im Freiflug unterwegs, aber er hat launig erzählt, wie das im Tirol seiner Jugend war mit dem „Jugendschutz“ für eine Jugend, die nicht geschützt werden wollte, schon gar nicht vor dem Kino. Die Filme, die ihn interessiert hätten, seien so jedenfalls an ihm vorbei gegangen.
Jetzt ist das Vorbeigehen von der passiven zur aktiven Sache geworden. Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, die Leiter des bis Sonntag (2.4.) dauernden Festivals des österreichischen Films, forderten in ihrer Grundsatzrede Neugier ein als Grundlage für eigentlich alles, nicht nur für den Film. „Die Neugierde jener, die hier schon immer waren, gegenüber jenen, die womöglich gerade erst angekommen sind“ ist dabei nur ein Aspekt. Die Diagonale-Leiter wiesen auf die Zersplitterung innerhalb der einst so konklusiven Form „Kino“ hin. Früher war das Kino ein Ort, an dem sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und -schichten quasi auf gleicher Augenhöhe begegneten. Jetzt orten die beiden Diagonale-Chefs Aufsplitterung, nicht nur zwischen Cineplexx- und Programmkino-Kundschaft, auch durch unterschiedliche Vertriebswege und Rezeption. Dabei wären Dialog und eben Neugier mehr denn je gefragt: „Erst die Verständigung darüber, von welchen unterschiedlichen Standpunkten aus wir die eine Welt sehen, führt uns aus jener gegenwärtigen Identitätskrise, die sich als pauschales Unbehagen an der Politik artikuliert und jede Kritik verstellt.“
Unterschiedliche Standpunkte: Die hat Michael Glawogger gerne eingenommen, solche filmisch zu dokumentieren war seine letzte Mission. Der am Dienstag (28.3.) in Graz erstmals in Österreich präsentierte Film „Untitled“ zeigt nachdrücklich, dass Glawogger nicht auf der kommoden Schiene unterwegs war. Auf dem Balkan hatte diese seine letzte Film-Reise begonnen, auf ehemaligem Kriegsgebiet, wo keiner mehr über den Krieg redet, aber die Spuren sichtbar sind wie eh und je. Sie führte weiter nach Italien, in ein Erdbebengebiet, wo eine Dame im Nerzmantel ihr altes, aufgegebenes Haus besucht. Ihr „Mamma mia“ bleibt die Ausnahme, denn außer Glawoggers philosophischen Reisetagebuchtexten, gelesen von Birgit Minichmayr und eingeblendet aus dem Off, ist dieser Film wortlos. Schon deshalb, weil Worte auf jeden Fall zu kurz griffen in diesem Road movie.
Glawogger drehte dann in Afrika, von Marokko bis Liberia, wo er an Malaria erkrankte und am 22. April 2014 gestorben ist. „Untitled“ hat seine langjährige künstlerische Wegbegleiterin und Editorin Monika Willi aus dem gedrehten Material geschnitten.
Sprünge von Kontinent zu Kontinent, krasse Gegensätze in den Spielarten von Elend – aber Glawogger hat für diesen Film alles andere im Sinn gehabt als die Malerei von Not und die direkte Anklage unseres Umgangs mit der Dritten Welt (die man durchaus in Bosnien/Serbien beginnen lassen kann). Nicht als Besserwisser sind Glawogger und sein Team mit Kameramann Attila Boa als vermutlich wichtigstem Mitglied der Crew losgefahren. Auch nicht als kundige Weltverbesserer, die ihre Sicht auf die Dinge mit Bildern untermauern (eine durchaus ernst zu nehmende Krankheit der engagierten Dokumentarfilmerei). Glawogger ist als Beobachter angereist, mit hoher Bereitschaft, das abzubilden, was ihm das Leben vor die Augen und vor die Kameralinse liefert. Vielleicht deshalb ist dieser Streifen trotz epischer Breite (107 Minuten) und einer Bild-Opulenz sondergleichen von einer leichtfüßigen, positiven Grundstimmung umweht. Leben kann gelingen, man schaue sich nur die einbeinigen Schwarzafrikaner an, die auf ihren Krücken mehr fliegend als humpelnd ein Fußballspiel austragen. Und Leben kann sein, wie es ist, sei es auch mit Kinder-Plackerei verbunden oder – ein ganz anderer Pol – mit Entschleunigung auf dem Rücken des Esels. Wer nicht unsensibel ist, wird die latente Anklage an die Welt-Wirtschaftspolitik schon verstehen, auch wenn diese nicht hinausgeschrien wird.
Bei allem Negativen und Positiven, das Glawogger und Monika Willi beobachten konnten: „Untitled“ ist auch kein Plädoyer für Unheilvermeidung und soziale Korrektur um jeden Preis, vor allem nicht um jenen der Freiheit. „Das Ende der Freiheit ist, Unheil voraus zu sehen“, hören wir die mahnende Stimme. Nichts und niemand also ist in „weiser“ Voraussicht wessen auch immer einzuschränken. Und schon gar kein Europazentrismus ist angesagt: „Wer würde heute in einer Arche Noah die Menschheit repräsentieren?“