Lust auf mehr Gluck
REST DER WELT / WIEN / ARMIDE
24/10/16 Mit Christoph Willibald Glucks Armide als erster Saisonpremiere sind die Musiciens du Louvre und ihr Chef Marc Minkowski so richtig im Haus am Ring angekommen und garantieren für einen musikalisch überzeugenden und bejubelten Abend.
Von Oliver Schneider
Auch wenn die Staatsoper auf Japanreise ist, wollen Wiener und Touristen nicht auf den Opernbesuch verzichten. Ein Heimorchester spielt zwar das Repertoire, doch im Herbst will auch immer die erste Saisonpremiere gestemmt sein. Was liegt näher, als dafür ein Gastorchester einzuladen? Dominique Meyer hat heuer bereits zum zweiten Mal die Musiciens du Louvre unter ihrem Chef Marc Minkowski in sein Haus geholt, die Glucks „Armide“ nach über 120 Jahren Pause in der Regie von Ivan Alexandre zu Leben erweckt.
Minkowski gelingt es, mit manchmal etwas dickem Pinsel die Atmosphäre von Glucks zu Unrecht selten aufgeführtem Werks gut nachzuzeichnen: leidenschaftlich und angemessen kraftvoll für den großen Raum, flüssig und auch immer wieder gerne knallig. Das ist vor allem dann der richtige Ton, wenn die innerlich zerrissene Zauberin gerade den Hass zu Hilfe ruft, um den christlichen Ritter Renaud für seine Rückkehr in den Kampf zu strafen. Ebenso in der Ouvertüre oder in den Divertissements, die Lust auf mehr Gluck aufkommen lassen. In den lyrischen Momenten – vor allem im fünften Akt – wünscht man sich trotz einiger schöner Holzbläsersoli mehr Transparenz. Dass es auf Originalinstrumenten noch klarer, noch sängerfreundlicher und trotzdem lebendig geht, hat gerade die Akademie für Alte Musik unter René Jacobs mit Antonio Salieris „Falstaff“ im Theater an der Wien bewiesen.
Trotz der kleinen Einschränkungen ist es in erster Linie Minkowski und den Musiciens du Louvre zu verdanken, dass Gluck in der Wiener Staatsoper zu einer bleibenden Erinnerung wird. Und Gaëlle Arquez als Armide und Stanislas de Barbeyrac als Renault. Aufblühend und heroisch ist Arquez‘ Sopran, wenn sie sich als Kämpferin um Renault oder Rache schwörende Furie bewähren muss, beseelt und voller Poesie, wenn sie ihre echte Liebesfähigkeit unter Beweis stellt. De Barbeyrac punktet mit charismatischem, höhensicherem lyrischem Tenor, der auch genügend Kraft bei der stellenweise massiven Begleitung besitzt.
Die kleineren Partien sind mit Mitgliedern aus dem Ensemble besetzt. Paolo Rumetz als röhrender Hidraot, Armides Vater, ist leider zu wenig beweglich für dieses Repertoire. Rollendebütantin Margaret Plummer (anstelle von Stephanie Houtzeel) sorgte hingegen in der besuchten dritten Aufführung als personifizierter Hass mit instrumental geführter Stimme für musikalische Höhepunkte. Einen positiven Eindruck hinterlässt schließlich der von Thomas Lang vorbereitete Gustav Mahler-Chor.
Marc Minkowski und Ivan Alexandre waren schon 2014 für die Produktion von Glucks Orfeo ed Euridice an der Mozartwoche verantwortlich. Für „Armide“ hat Pierre-Andre Weitz ein sich drehendes Metallgerüst geschaffen, das immer wieder neu zusammengesetzt wird und dessen verschiedene Ebenen durch Treppen verbunden sind. Das Libretto über die wechselvolle Liebe zwischen der heidnischen Zauberin Armida und dem christlichen Ritter aus dem Epos Das befreite Jerusalem von Torquato Tasso hatte Philippe Quinault fast hundert Jahre vor der Uraufführung von Glucks Reformoper für Jean-Baptiste Lully verfasst. Das Werk wurde zu Lullys und Quinaults größtem Opernerfolg, weshalb Glucks fast originalgetreue Wiederverwendung des Textes zumindest ein Risiko war. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Von der Uraufführung 1777 bis 1824 ging das Werk immerhin 428 Mal an der Pariser Oper über die Bühne, bis es dann später in der Schublade verschwand.
Bei Ivan Alexandre verkleiden sich die heidnischen Krieger als Frauen, um die christlichen Ritter in die Falle respektive Armides Zauberreich zu locken. Armide selbst muss gleich zweimal die Kleider tauschen: erst als Mann, um überhaupt kämpfen zu dürfen, und dann wieder als Frau, die im Innersten den Kreuzritter Renault liebt. Hübsch bebildert ist das Ganze, so dass kein Besucher allzu verschreckt wird. Allenfalls stören können die homoerotisch angehauchten choreographischen Verrenkungen der jungen Herren der Ballettakademie (Jean Renshaw). Die Frage, was uns das Werk heute noch sagen könnte, wird nicht gestellt. Stattdessen darf man sich an den schönen Kostümen und dem auf der Vorderseite goldenen – für die Magie – und auf der Rückseite rostig-braunen Metallgerüst – für den Krieg – erfreuen. Ein bisschen mehr dürfte auch ein Repertoiretheater bieten.