Paradise lost and found
REST DER WELT / GRAZ / STEIRISCHER HERBST
10/10/16 Nur als von der Decke hängende Stoff-Skulpturen hat man die Objekte wahrgenommen, als man in den dunklen Raum gekommen ist. Plötzlich erkennt man in diesen „Dingen“ Körper. Menschen, die sogar singen.
Von Reinhard Kriechbaum
Einer „begehbare Operninstallation“ wurde am letzten Tag des „musikprotokolls“ im „steirischen herbst“ uraufgeführt: „Paradise“ von dem 1986 geborenen Berliner Komponisten und Performer Martin Hiendl. Er ist Johann-Joseph-Fux-Opernkompositionspreisträger. Ein Cyborg (cybernetic organism, also ein Mensch-Maschinen-Mischwesen) ist der Hauptdarsteller, ein Schauspieler androgynen Charakters, silbrig glänzend mit einem eigenwilligen Kostüm aus Metallgestängen. Die singenden Cocons entpuppen sich, arbeiten sich aus ihren Hüllen, beginnen sich zu bewegen, den Raum (in dem auch Musiker verteilt sind) zu ergreifen
Im Grazer Mumuth (der Opernbühne der Musikuniversität) wird alsbald das ganze Haus bespielt. Im dritten Geschoss gehen die erwachten singenden Wesen um. Sie sprayen mit heller Flüssigkeit Worte ihres Textes – eine Passage aus der Bibel übers Kindsein und Erwachsenwerden – auf ein Labyrinth von Nylonbahnen. Es ist eine Säure, die sogleich Löcher in das Nylon frisst. Einen Stock tiefer sind, ebenfalls zwischen Transparentfolien, einige kleine Instrumentalistengruppen verteilt. Im Erdgeschoss gibt es einen mystischen Raum mit einem Wasserbecken, über das ganz flache Nebelschwaden ziehen. Dieser Raum ist meditativ, denn dort münden quasi alle Live-Beiträge der Vokalisten und Musiker aus dem ganzen Haus. Das ergibt eine dichte, laute, aber erstaunlicherweise nicht über-kompakte, sondern in sich doch vernehmbar strukturierte Klangfläche. Passt irgendwie zum Nebel, dessen Strukturen auch hübsch anzusehen sind.
Das Publikum bewegt sich zwischen den Orten, unmittelbar zwischen den musizierenden Protagonisten.Man kommt sich nah auf Tuchfühlung, vernimmt einzelne Textfloskeln oder eben unterschiedliche Klänge, Impulshaftes oder Flächiges, klare Wörter oder pointillistischen Raumklang. Musik und Szene (eine Installation der Grazer Bühnenbild-Studentin Judith Selenko) sind angetan, Ruhe zu vermitteln. Keine Hektik, niemand eilt im Haus herum. Das Publikum schlurft, hockt, steht. Ein merklich konzentriertes, angeregtes Hören. So soll es sein bei einer zu erwandernden Oper.
Vielleicht haben manche bei dieser mobilen Meditation eine Schlüsselszene im Hauptraum gar nicht mitbekommen: Da erwacht ein vergessenes Cocon unter dem Paradiesbaum (ein verdorrtes, nach oben und unten wachsendes Ding) zu Leben. Zur Frau geworden und zu kantabler Opernstimme (das gefundene Ich) gekommen, geht sie auf den Cyborg zu, vereinigt sich mit ihm und strebt mit ihm einer vielleicht lichtvolleren Zukunft zu, als man das gegenwärtige, akustisch geflutete Wandel-Paradies empfindet. Von dieser Paradies-Welt erzählen auch viele Bildschirme, und da ist manches nicht heil: Ist das Paradies womöglich Chimäre? Je nach Route, Verweildauer, Hör-Impression und unterschiedlicher Konzentration auf Musik, Szene oder Video wird man zu unterschiedlichen „Geschichten“ kommen. Unberührt geht man jedenfalls nicht aus dieser rund eindreiviertelstündigen Installation, einer Gemeinschaftsproduktion von Grazer Kunstuniversität und "herbst"..
Am Wochenende konnte man auch ein anderes Paradies besuchen beim „steirischen herbst“, der sich heuer rundum performativ geriert. Die internationale Performer-Gruppe Mamaza hat sich aus Grazer Haushalten und Büros Unmengen von Topfpflanzen ausgeborgt und das Grazer Orpheum in ein Gewächshaus verwandelt: Sitzkissen und andere Gemütlichkeiten zwischen üppigem Chlorophyll, ein Ort für Vorträge, Diskussionen, aber auch für Yoga oder zum Origami Falten.
Das Paradies, das man in der Herumgeh-Oper „Paradise“ vielleicht als verloren oder zumindest „under construction“ erlebt hat: Hier konnte man es finden. Da und dort zwischen Zimmerlinden und Philodendren chillende Studenten,die im mitgebrachten Bami Goreng stocherten.