Des Kopfes zierliches Eirund
REST DER WELT / WIEN / HERMANN UND DOROTHEA
03/10/16 Goethes Hexameter-Epos „Hermann und Dorothea“ hat überraschenderweise eine Salzburger Wurzel. Eine Begebenheit aus der Emigrationsgeschichte Salzburger Protestanten inspirierte Goethe, der die Story dann freilich in seine mitteldeutsche Fast-Gegenwart verlegt hat.
Von Reinhard Kriechbaum
Einem Publikum, das frustriert ist „von nicht zustande kommenden Problemlösungen“ angesichts der Migration, überdrüssig der „Egoismen der Nationalstaaten, die ihre Hartherzigkeit mit Realpolitik verwechseln“ will Alfred Kirchner Goethes „Hermann und Dorothea“ anempfehlen. Als einen „scharfen Fingerzeig“ gar „auf die notwendige moralische Aufladung derzeitiger politischer Auseinandersetzungen und auf ein trostloses Europa, das in der Abwendung von Not ein ziemlich hässliches Gesicht zeigt“ (Zitate Programmheft). Ob er da das Hexameter-Epos, das zu lesen gründlich aus der Mode gekommen ist, nicht gar arg überstrapaziert?
Die „inszenierte Lesung“ im Burgtheater ist kein echter Härtetest, denn das charimatische Schauspieler-Duo Maria Happel und Martin Schwab hat die gebundene Sprache so wunderbar drauf, dass die beiden ganz ungebunden ran gehen können an die Ironie, mit der Goethe beim homerischen Durchbeuteln seiner Protagonisten nun wirklich nicht gespart hat.
Flüchtlinge sind da und brauchen Hilfe. Nicht unschwer hat sich der Wirt zum Goldenen Löwen vom Schlafrock getrennt, den er schon lange nicht mehr trägt. Auch seine Frau versichert: „Nicht gern verschenk ich die abgetragene Leinwand.“ Protestantischer Gemeinsinn schwächelt, wenn – leider – die armen Fremden kommen. Bedeutungsvoll zieht Martin Schwab das Wort „leider“ in die Länge. Der Apotheker gäbe schon, hätte er bloß gerade Geld eingesteckt. Hat er nicht.
Ausgerechnet in eine arme Fremde verliebt sich der in Frauen-Werbung nicht recht geeichte Wirtssohn Hermann. Ein Gutteil des Versepos geht mit der Beschreibung vom Zustandekommen einer guten protestantischen Ehe auf. Es ist nicht das gewinnendste Sittenbild, das Goethe zeichnet: Spießer, Philister, Klugscheißer sind am Wort, im Ernstfall ist die resche Wirtin am Handeln. Gewitzte Erklärungen haben die Männer, um die Stärke ihrer Frauen vor sich selbst zu rechtfertigen. An Pointen fehlt es nicht, dafür sorgen Maria Happel und Martin Schwab mit eloquentem Wortschwall. Die rasch wechselnde Textaufteilung, gelegentlich sogar innerhalb der direkten Rede, trägt ganz wesentlich zur Auflockerung bei. Gelegentlich ein scheeler Blick, eine unmissverständliche Geste – schon ist die kritische Distanz zum Text gesichert.
Gar kein Thema war für Goethe der Umgang mit möglicherweise fremden Sitten, mit gewöhnungsbedürftiger Wesensart. Wenn Pfarrer und Apotheker als Braut-Tester über den Zaun lugen, ist das eine Spießer-Parodie, die Spitzweg oder Wilhelm Busch vorwegnimmt. Auch Hermann selbst nährt mit seinem Schwärmen von den Schönheiten des Gewandes und der Formen der Angebeteten – mündend in „des Kopfes zierlichem Eirund“ – eher den Verdacht, dass die Ehe mit Dorothea das Spießertum solide fortschreiben wird.
Regisseur Alfred Kirchner baut in seiner Deutung von „Hermann und Dorothea“ als Integrations-Lehrstück sehr auf den Schluss. Dorothea hat ja schon einen Verlobungsring am Finger (der junge Mann ist in den Revolutionswirren umgekommen). Dorothea wird die Vergangenheit nicht verleugnen und mit ihr nicht brechen. Der Ring bleibt dran. Und in einem starken Monolog sagt sie viel Gescheites, etwa dass für jemanden mit ihrer Fluchterfahrung auch der nun vermeintlich erreichte feste Boden immer „schwankend“ bleiben wird.
Ein knackig durchgezogener, anregender Abend, gar keine Frage. Goethe-Nachhilfe mit einiger Überzeugungskraft. Aber aufs Nachtkästchen kommt „Hermann und Dorothea“ deswegen trotzdem nicht, schon gar nicht als Pflichtlektüre zum Flüchtlingsthema.