Das Herz der Jugend schlägt für seinesgleichen
PFINGSTFESTSPIELE / TOD IN VENEDIG
08/06/25 Den Tod in Venedig beschwört John Neumeier zu den Pfingstfestspielen mit seinem ledendären Totentanz aus dem Jahr 2003. Seine Figuren tanzen hauptsächlich zu Bach und Wagner. Das alles hat mit der Serenissima mehr zu tun als zu erwarten und birgt ein Meer der Schönheit des bewegten Menschen.
Von Erhard Petzel
Nur wenige Werke entfalten eine ähnliche Tiefenwirkung in ihrer Rezeption wie die Novelle Thomas Manns, was über Identifizierung der Künstler mit der Problematik ihrer Homoerotik zu verstehen ist. So etwa die Opernfassung durch Britten 1973. Viscontis Verfilmung 1971 saugt ihre Faszination aus der Musik Mahlers in der Transformation der Hauptperson zum Komponisten. Seine Behandlung des Knaben Björn Andrésen muss mit dem heutigem Wissen als Missbrauchsgeschichte eingeordnet werden. Beide Werke folgen im Wesentlichen der Vorlage Thomas Manns und konzentrieren diese ihren medialen Bedingungen gemäß. Neumeiers Ansatz für sein Hamburg Ballett 2003 greift da rigoroser ein. Sein Aschenbach arbeitet an einer Choreografie zu Friedrich dem Großen (personifiziert von Alessandro Frola). Das geschieht stimmig zu Bachs Musikalischem Opfer BWV 1079, dessen Thema der Preußenkönig (der wiederum Gegenstand der Novelle ist) vorgegeben hat. Die emotionalen Turbulenzen finden großteils zu Musik Richard Wagners statt. Das scheint zunächst überfrachtet.
Vorausgeschickt sei, dass Neumeiers Erzählung sich im Tanz umwerfend eindrücklich entwickelt. Bach und Wagner stehen da für Nietzsches Idee des Gegensatzes in der Kunst vom Apollinischen zum Dionysischen, wie auch bei Britten. Aber Thomas Mann beschäftigte sich 1911 im Venedig-Urlaub mit Wagner (der hier seine Intuition zu Tristan und Isolde fand und tatsächlich dort verstarb), während er am Strand seinen realen Tadzio beobachtet.
Neumeier sieht in diesem keinen realen Knaben, sondern eine mythische Ebene, auf deren emotionaler er choreografieren könne. Bei ihm ist Tadzio auch kein Psychopompos, sondern eine Folie, auf der sich Aschenbachs Sehnsüchte abbilden. Immer wieder sind es kleine Gesten wie ein kurzer Handkontakt, der die Flüchtigkeit der Jugend unterstreicht, die ihr Ding macht, unbekümmert um die Fantasien des Erwachsenen. Selbst zum Schluss, wenn Tadzio (ein herrlich jugendlicher Caspar Sasse) dem vom Tod Gezeichneten (ein wunderbar verklemmt-zögerlich-liebesbürftiger Edvin Revazov) immer wieder aufhilft, bleibt der Junge eigentümlich teilnahmslos, obwohl sich der Alte an ihn klammert bis zum bitteren Ende. Bis zu Franz Liszts Transkription von Isoldens Liebestod. Ein gemeinsames Ballspiel ist nur ein kurzes Interludium. Das Herz des Jungen schlägt für seinesgleichen.
Herrliche Ensembles – die Probenarbeit, die Gäste, der Junge am Strand, das Bacchanal, der Totentanz mit den abgeschleppten Cholera-Leichen und die Familie. Anna Laudere ist da die gute Frau für alles, auch Mutter Aschenbachs, die in biblischer Schweißtuch-Geste ihrem gedemütigten Sohn die falsche Schminke abwischt. Aschenbachs jüngeres Selbst findet in Filipe Rettore eine knabenhafte Verkörperung, wie auch die Mädchenrollen selbstverliebte Lebenslust versprühend. David Fray spielt das Klavier auf der Bühne, fallweise in raffinierter Überlagerung mit den eingespielten Orchesterwerken. Drei Planen decken den Raumhintergrund ab und öffnen sich zum flexiblen Bühnenbild (Peter Schmidt), das mit Projektionen und Lichteffekten seine Wirkkraft erweitert. Der Aufriss eines Bootskörpers mahnt an Charon. Die Eleganz der Kostüme korrespondiert mit dem Mondänen einer morbiden Welt, so nicht die einfache Badehose genügt.
Die choreografische Sprache Neumeiers zeichnet sich durch Verständlichkeit, Plastizität und Klarheit aus. Das Werk ist 2025 ansprechend und frisch wie eh. Spätestens wenn der Choreograph mit allen anderen auf der Bühne den Schlussapplaus entgegen nimmt, setzen sich im Publikum Standing Ovations durch. Mit dem Eigenleben, das er seinem Ballett der literarischen Vorlage abgerungen hat, führt er uns in die turbulent sanften Abgründe eines Todes aus Liebe und Schönheit.
Noch immer spannend, die Geschichte, in welcher Kunstform auch immer. Aschenbach ändert sich durch seine emotionelle Erfahrung, seine Konzepte im Tanz (Silvia Azzoni, Alexandre Riabko) sind schwarze Schatten. Der disziplinierte Arbeiter wird von orgiastischen Fantasien heimgesucht. Die Todesboten bei Mann werden hier zu einem ritornellartig wiederkehrenden Duett in unterschiedlicher Aufmachung. Louis Musin und Matias Oberlin treiben Aschenbachs Persönlichkeit in den Abgrund. Zu Wagners Züricher Vielliebchen-Walzer WWV 88 indignieren sie als Homo-Clowns die gute Gesellschaft des Hôtel des Bains und stoßen mit ihren unappetitlichen Avancen Aschenbach ab. Doch zum Bacchanal aus Tannhäuser kommt es zu einer regelrechten Sexorgie (natürlich aus dem Liegestuhl imaginiert). Nach dem Wirken der Frisöre (Haar färben, Lippen röten in der Novelle) ist die Würde dahin. Zum Totentanz schlagen sie in Kiss-Masken auf der Stromgitarre den Totentanz. Daneben gibt es zur Bourée aus der bearbeiteten Lauten-Suite e-Moll BWV 996 die einzige Musik, die nichts mit Bach und Wagner zu tun hat, Yngwie J. Malmsteens Baroque & Roll. Zum dem von Anton Webern instrumentierten Ricercar a 6 aus dem Musikalischen Opfer wird das Projekt Friedrich der Große begraben.
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Bilder: SF / Kiran West