Ohrenfeger und Zuckersirup

CAMERATA / JULIAN RACHLIN

26/09/11 Das erste Camerata-Zykluskonzert mit Julian Rachlin im Großen Saal des Mozarteums: Begeisternde Dinge von Mozart und Schnittke, dann aber ein in jeder Hinsicht dickes Ende.

von Erhard Petzel

W.A. Mozarts Symphonie A-Dur KV 201: was als Stück zum Einspielen missbraucht werden könnte, wird hier zum Ereignis. Mit gespannter Konzentration ziselieren Dirigent und Ensemble feinste Nuancen heraus, geben jedem einzelnen Phrasenverlauf Rückhalt und klangliches Fundament, überraschen mit Effekten, die so nicht erwartet wurden und erzeugen packende Spannung im ausgewogenen Wechsel zur elegant zurückgenommenen Geste. Die Kommunikation der Tempi und der Reichtum an agogischer Finesse bestechen.

Souverän beschwört Rachlin einen facettenreichen Orchesterklang, feilt fallweise die Balance zwischen den Bläsern nach und zeichnet bewusst jedes Moment im Kosmos des ernsthaften Lichtkobolds vor, sodass dem Genius loci alle Aufmerksamkeit zuteil wird, die ihm gebührt. Die kontrollierte Exaltiertheit des virilen Dirigenten wird der des jugendlichen Komponisten gerecht. Bei aller Sorgfalt in Detail und Gesamtschau dröhnt die erträgliche Leichtigkeit des Seins durch, ohne auch nur einmal zu brüllen.

Dieses bestechende Mozart-Abenteuer ist eine perfekte Aufbereitung von Schnittkes Sonate für Violine und Kammerorchester. Rachlin hat statt des Stabes das Soloinstrument in der Hand und wütet sich wie ein Säbelzahntiger durch die triste Sumpflandschaft des Andante. Dunkle Wolken von Birsaks Cembalo werden durch Orchesterschläge zerdroschen, letztlich bleibt seufzendes Aushauchen. Die schreienden Schläge finden sich im Allegretto wieder, einem manischen und klaustrophoben Zwiefachen.

Kadenzen und ein himmlisches Largo werden vom Cembalo konterkariert, während sich die Solovioline immer wieder einmal zu einem Duett mit dem Cello zusammenfindet. Aus all dem verdichteten Irrsinn bellt im Finalsatz so etwas wie ein verzerrtes La Cucaracha heraus, ehe der Solist auf einem Ton über Akkordfolgen des Cembalos hängen bleibt und schließlich hilflos staunend seinen Schluss zupft. In dieser Sternstunde ist klar, warum Schnittke zu den meistgespielten Komponisten der Moderne gehört.

Nach so viel Bemerkenswertem eine überraschende Wende: Warum eigentlich Tschaikowskys Streichsextett in d-Moll op. 70 mit dem vollen Streicherblock der Camerata? Da Rachlin auch da Geige spielt, kommt auch kein dirigentischer Impuls. Das geht zu Lasten kammermusikalischer Transparenz.

Die Reaktionszeit eines Orchester ist einfach träger als das Zuspiel einzelner Akteure, und so wälzt sich alles im Hollywood-Breitwandsound. Der kann auch fallweise ganz beeindruckend sein, zum Beispiel im Choral des 2. Satzes oder in den Crescendi. Rachlin und der größere Teil der Musiker baden im Klangrausch, der größere Teil des Publikums wohl auch.

Als Draufgaben 2 Dedikationen an den Solisten in Form von Arrangements des befreundeten Schlagwerkers der Kremerata Baltica, Andrei Pushkarev: Gershwins „The Man I Love“ und David Raksins „Laura“. Schöne Musik, großer Elan und frische Spielfreude. Und dennoch: Wurden durch Mozart und Schnittke die Ohren so richtig durchgepustet und der Geist wachgerüttelt, ist nach dem zweiten Programmteil alles wieder schön zugeklebt.