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Choral, wie er wirklich war?

FEUILLETON / MUSIKGESCHICHTE  / GRADUALE NOVUM (1)

09/09/11 Der Salzburger Erzbischof hat sein Sanctus – korrekt: das Imprimatur – gegeben für eine Noten-Edition jener Musik, die an der Wiege unserer Musikkultur steht. Das Neandertal der europäischen Musik? Es lag im Norden des fränkischen Reichs und war ungefähr ab dem Jahr 750 von Mönchen besiedelt. Wer einschlägige Musik-Archäologie betreibt, findet aber keine Knochen, sondern Neumen.

Von Reinhard Kriechbaum
und Heidemarie Klabacher

altGregorianischer Choral ist seit Jahren „charttauglich“. Das hat niemandem geschadet. Nicht dem Choral. Nicht den wenigen, die diese Musik hinter Klostermauern noch immer pflegen, nicht den Konsumenten von CDs etwa der Mönche von Burgos oder Heiligenkreuz. Nicht schadet aber auch ein wenig Nachzudenken, was Choral wirklich ist. Auf jeden Fall mehr als Musik zum Meditieren.

In den vergangenen vier Jahrzehnten ist in der Sicht auf den Gregorianischen Choral  kein Stein auf dem anderen geblieben. Wir haben es auch da mit einer Art „Originalklangbewegung“ zu tun. Die Quellen ältester Überlieferung, in St. Gallener und Metzer Neumen, sind unterdessen gut erforscht. Neumen – das sind ungefähr ab dem Jahr  850 über die Texte geschriebene Zeichen. Sie erinnern an Stenogramm-Symbole, Tintenspritzer oder Fliegenbeine. Die Zeichen schrieben nicht eindeutige Tonhöhen fest, sondern waren als Erinnerungshilfe für jene Mönche gedacht, die die Melodien im Grund  auswendig konnten.

Erst viel später, um das Jahr 1000, hat man begonnen, Notenlinien zu ziehen. Seit damals wird der Gregorianische Choral in quadratischen Noten auf vier Linien notiert. Aber das ist eben schon die zweite Notenschrift für diese Musik – von ihrer „Erfindung“ weg gerechnet ungefähr so weit entfernt wie Mozart von unseren Tagen.

altWas in den bis jetzt gebräuchlichen Choralbüchern steht, entspricht in vielen Einzelheiten nicht dem, was die Neumen meinten. Deshalb führen Choralforscher seit Jahrzehnten Dispute und bemühen sich, die Melodien auf ihre ursprüngliche Form zurück zu führen. Die darob geführten Scharmützel unter Wissenschaftern waren produktiv. Der Forschungsstand ist gut. Was bisher fehlte: ein gedrucktes Buch, in dem die Erkenntnisse der Choralkriegsgewinner Notenzeile für Notenzeile nachzulesen und nachzusingen sind. Ein Buch das Sängerinnen und Sänger im Wortsinn „zur Hand nehmen“ können.

altDas jüngst erschienene „Graduale novum de Dominicis et Festis“ bietet nun die Gesänge zu den Sonntagen und den Hochfesten. Es ist die „Urtextausgabe“ der gregorianischen Messgesänge, wenn man es so nennen will.

Die Frage, wer das brauchen soll, sei jetzt mal ausgeklammert. Es hinterfragt ja auch niemand den „Faust 1“ oder die „Sechste“ Beethoven oder die Gedichte von Ingeborg Bachmann, die alle etwas jünger sind.

altInteressanter ist eine andere Frage: Warum hat das mit den re-konstruierten „originalen“ Choralmelodien so lange gedauert? Liturgische Bücher zur kirchlichen Verwendung in katholischen Kirchen (das Repertoire des Gregorianischen Chorals enthält die liturgischen Kerntexte) können nicht einfach so gedruckt werden. Es braucht die kirchliche Druckerlaubnis, das so genannte „Imprimatur“. Römische Mühlen mahlen bekanntlich langsam. So hat der Salzburger Erzbischof Alois Kothgasser, in der österreichischen Bischofskonferenz für die Liturgie zuständig, das Imprimatur erteilt. Das „Graduale Novum“ ist eine Produktion der ConBrio Verlagsgesellschaft, bemerkenswerter Weise in Zusammenarbeit mit der Libreria Editrice Vaticana. Da sind die deutschen und österreichischen Choralwissenschafter also vergleichsweise weit herunter gekommen vom Elfenbeinturm und ins publizistische Zentrum der römischen Kurie vorgedrungen.

Das ist gewiss nicht zum Schaden der Sache, hat man nun doch so etwas wie einen offiziell beglaubigten „gesicherten Notentext“ bei der Hand, und das in einer praxisorientierten Ausgabe. (Wird fortgesetzt)

 

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