Carl Philipp Emanuel Bach komponierte sämtliche melodisch einprägsamen Arien und ein zauberhaftes Duett für zwei Soprane, alle dramatischen Accompagnati und, mit hörbaren Anlehnungen an Johann Sebastian Bach, die Evangelientexte. Ein wertender Vergleich beider Stücke kann nur unfair sein. Der Sohn, für die Zeitgenossen übrigens „der“ Bach, lebte einfach in einer anderen Zeit. Er war einer der wesentlichsten Schöpfer des leidenschaftlich aufgeladenen neuen Stils der frühen Klassik, wurde von Joseph Haydn und Mozart bewundert und war vor allem ein Meister der Klaviermusik und einer bis heute verblüffenden, experimentellen Symphonik. Bei ihm lag oft die Würze in der Kürze.
Seine geistliche Musik lebt in ihren besten Stücken von der Feinarbeit, mit der er dem Schatten des Vaters entkam. Er kopierte mitunter ganz ungeniert, was damals überhaupt nicht verpönt war, aber er kontrastierte die ehrwürdigen Zitate durch eine völlig neuartige Umgebung. Immerhin hatte er in Hamburg rund fünfzehn erstklassige „Ratsmusikanten“ zur Verfügung, für die er einen wahren Klangzauber schuf.
Da säuselt und grollt, donnert und bebt die Natur, da öffnet manche eingängige Phrase Tore zur frühen Romantik – und die Gesangstimmen sind blendend darin eingebettet. Es gibt auch Momente der Verinnerlichung, die berühren, zum Beispiel wenn der Evangelist im Accompagnement des Finales seiner eigenen Feststellung des Todes des Erlösers am Kreuz nur mit den zwei oftmals wiederholten Worten „Er verschied“ nachsinnt. Darauf folgen noch ein kontemplatives Sopran-Arioso und ein getragener Schlusschoral über das „Lamm Gottes“, den der Sohn seinem eigenen Schaffen entnommen hat.
Gordon Safari zeichnet mit den 22 patenten Mitgliedern des instrumentalen Teils von BachWerkVokal und mit einem Dutzend famoser und stilkundiger Sängerinnen und Sänger all dies nicht nur getreulich und präzise nach, sondern er formt daraus ein großes, packend erzähltes spirituelles Drama. Grandios, wie er es schafft, jedes Detail liebevoll herauszuarbeiten, ohne in trockene Analytik zu verfallen. Da lebt alles und blüht in vielen Farben. So wird exakte musikalische Rhetorik zu spannender Klangrede. Und so schön und durchaus sinnlich kann historisch informiertes Musizieren sein!
Man sollte eigentlich jetzt alle Mitwirkenden aufzählen, denn jede und jeder trägt in höchster Qualität zur brillanten, in den Bann ziehenden Gesamtwirkung am Gründonnerstag nachmittags in der Christuskirche bei. Die zwei pausenlosen Stunden vergehen wie im Flug. Natürlich sind alle Gesangssoli aus dem Chor besetzt. Genannt werden muss Alexander Hüttner als absolut wortdeutlicher Evangelist. Er trägt, mit geschmeidiger Führung der bestens fokussierten Spieltenor-Stimme und sicherem Ausdruck, die vokale Hauptlast des Abends, auch in den Arien. Die Rolle ist ja länger als die meisten Opernpartien. Wie Hüttner für alle Evangelisten empfiehlt sich Brett Pruunsild, noch am Mozarteum studierender Edelbass, für die Jesus-Rollen aller großen Passionen.
Nach einer von Gordon Safari initiierten meditativen Stille brach der Jubel des erstaunlicher Weise kaum hustenden Publikums los.
BachWerkVokal wird heuer zehn Jahre jung, hat sich international einen Namen gemacht und ist aus Salzburg nicht mehr wegzudenken. Dies wird am 18. Mai ab 18 Uhr mit einem Jubiläumskonzert in der Christuskirche samt anschließendem Empfang gefeiert werden.