Der weltliche Kopf einer jungen Nonne
CD-KRITIK / VITTORIA ALEOTTI
06/05/25 Was für Musik erwarten wir von einer achtzehnjährigen jungen Dame, die als Vierzehnjährige ins Kloster gekommen ist? Wahrscheinlich nicht ein Madrigal, in dem die Liebe besungen wird als „Stimme der Süße und Freude“, verbunden mit dem Ruf „Nimm sie schnell, Amor, präge sie in meine Brust“. Der Adressat solcher Texte ist nicht der Himmelvater...
Von Reinhard Kriechbaum
Schon weniger verwundert ist man, wenn man Zeit und Ort kennt: Wir sind in Ferrara, im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts. Dort ist es nicht nur kulturell, sondern auch in amourösen Dingen hoch hergegangen. Gerade war zum Beispiel Gesualdo da Venosa wieder nach ferrara gekommen, frisch verheiratet mit Eleonora d'Este (nachdem er seine erste Frau und deren Liebhaber ins Jenseits befördert hatte). Vittoria Aleotti, Tochter des Hofarchitekten, hat wohl als Halbwüchsige allerhand mitbekommen, was für Kinderohren nicht unbedingt geeignet war...
Als Klosterschwester in San Vito hat sie ihren Vornamen abgelegt und den Ordensnamen Raffaella angenommen. Die weltlichen Gedanken hat sie so schnell gewiss nicht wegbekommen. Als sie 1593 eine „Girlande“ von 21 vierstimmigen Madrigalen komponierte, waren ihr aufrichtige Liebesgefühle ebenso wenig fremd wie Liebesfrust. Die Texte lieferte der Ferrareser Hofdichter Giovanni Battista Guarini, Schöpfer von Il pastor fido.
Aus diesen höchst wirkungsvollen Stücken spricht nicht wenig glaubwürdige Leidenschaft. Echte Pretiosen in Sachen Renaissance-Frauenmusik, vielleicht sogar effektvoller und in der Erfindung origineller als manche Kompositionen der Francesca Caccini oder der anderthalb Generationen jüngeren Barbara Strozzi.
Vittoria Raffaella Aleotti (1575-ca.1646) und ihre Nonnen-Kapelle aus bis zu 23 Sängerinnen und Instrumentalistinnen war auch außerhalb der Klostermauern gefragt, wie überhaupt musizierenden Frauen damals in Ferrara hoher Rang zukam. Die Concerte delle Dame – dreier Sopranistinnen – für geladene Gäste in den Gemächern der Herzogin waren legendär.
Keine Frage, dass Vittoria Raffaella Aleotti die Madrigale von Gesualdo und auch jene von Monteverdi kannte. In der Melodik wird bereits der gestische Duktus der „seconda prattica“ eines Monteverdi greifbar und der Affekt der quasi in den Startlöchern stehenden Oper. Noch kein Continuo zwar (bloß eine ganz unauffällige Stütze durch die Laute), dafür ein intensives Mit- und Ineinander aus einer oder zwei Führungsstimmen mit harmonischer „Vokal-Unterfütterung“, was trotz Vierstimmigkeit nicht selten Doppelchörigkeit suggeriert. Es ist Musik nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern absolut vorne dran.
Der Altist Christoph Dittmar, Mitglied und Leiter des Cantus Thuringia, hat manche Stücke höher oder tiefer gesetzt, lässt zwei Mal auch bloß eine Stimme zur Lauten Intavolierung singen. Einiges an Abwechslung also. Zwischen den Madrigalen steht Cembalomusik von Ercole Pasquini (1550-1619), dem Musiklehrer von Vittoria Raffaella Aleotti und von Luzzasco Luzzaschi (1545-1607), einem der absoluten Tasten-Virtuosen seiner Epoche. In diesen Toccaten und Canzonen setzt Bernhard Klapprott auf die komponierte Diminutionskunst noch ein Scherflein drauf. Da werden die Ohren gekitzelt. Und weil sich das sowohl im Vokalsatz wie auf dem auffallend weich intonierten Tasteninstrument auf einem alten hohen Chorton, also auf 465 Hz abspielt, fehlt es auch nicht an Leuchtkraft.
Im übrigen: Die letzten beiden Stücke der Ghirlanda de Madrigali sind dann ja doch geistlichen Inhalts. Sie wirken wie eine Entschuldigung der jungen Nonne für den weltlichen Tand zuvor: „Doch ach, was erfreut und was schadet, kann eine blinde Seele unmöglich verstehen“, heißt es da in „Reue über meine schlecht verlebten Jahre“. Hat gewirkt. Vittoria Raffaella Aleotti wurde schließlich Oberin in ihrem Kloster.
Vittoria Raffaella Aleotti: Ghirlanda de Madrigali. Cantus Thuringia, Ltg. Christoph Dittmar, Bernhard Klapprott (Cembalo). Deutsche Harmonia Mundi (dhm 11935099)