Erlösung auf zweitem Weg

HÖRVERGNÜGEN / GUERCOEUR

02/04/21 Andreas Vogl präsentiert unseren Leserinnen und Lesern Lieblings-CDs aus allen Genres von der großen Oper zum intimen Lied. – Heute empfiehlt der CD-Händler die Erlösungsoper Guercoeur von Albéric Magnard.

Von Andreas Vogl

Zugegeben, diesmal wird’s speziell und esoterisch. Aber der gedankliche Weg meiner musikalischen Texte führt vom Todesengel Suks über die Komponisten der Belle Epoque in Frankreich um 1900 bis hin zu dieser ausgesprochenen Rarität, der Oper Guercoeur von Alberic Magnard’s.

Hier muss man zunächst auf das Genre der Erlösungsoper eingehen (liegt nicht jeder Oper ein Erlösungsthema zu Grunde?) und hier besonders auf Richard Wagner, in dessen gesamten Opernschaffen die Erlösung im Mittelpunkt steht. Egal ob Holländer, Lohengrin, Tristan oder der Ring – bei ihm bedeutet dramaturgisch der Schluss immer zugleich Rettung, Entspannung, Befreiung und Abgang. „Zum Raum wird hier die Zeit“ heißt es im Parsifal, der Erlösungsoper schlechthin. Eine Rittergesellschaft und ihr König sind an einem Endpunkt angekommen und nur eine reinigende (und religiöse?) Auflösung, musikalisch durch den Karfreitagszauber dargestellt, kann die positive Wende herbeiführen. 

Anders und gewissermaßen reflexiv stellt sich die Erlösung des Guercoeur dar. Auch er ist ein mittelalterlicher Ritter und Herrscher, eine Symbolfigur für den Menschen als solchen.

Der französische Komponist Albéric Magnard  (1865-1914) wird beim geschätzten Publikum weniger bekannt sein. Er studierte bei Massenet und d’Indy, war, wie seine Kollegen César Franck und Ernest Chausson, glühender Wagnerianer. Und das hört man auch in seinem nur 22 Werke umfassenden Oeuvre. Noch passender: Er wird auch der „französische Bruckner“ genannt, was vor allem in seinen vier Sinfonien zu erkennen ist. Die Oper Guercoeur, entstanden zwischen 1897 und 1901, aber erst 1931 in Paris in ihrer Gesamtheit uraufgeführt, gilt hingegen als sein Opus Magnum. Und fürwahr die Beschäftigung damit lohnt. „Le temps n’est plus. L’espace n’est plus“, singt der Chor im ersten Akt und nicht nur textlich, auch kompositorisch tun sich hier absolute Parallelen zum Parsifal auf, wenngleich die Erlösung von hinten aufgezäumt wird. Dem verstorbenen Guercoeur passt es im Himmel nicht und er bittet die Allegorien Wahrheit, Güte und Leid, wieder auf die Erde zurück zu dürfen. Auch hier die Auflösung des Raum-Zeit-Kontinuums, wenn man so will, in herrlich sphärische oratorienhafte Musik getaucht, manchmal an Elgar’s Dream of Gerontius erinnernd. 

Der zweite Akt ist dann Oper pur: Der wieder belebte Ritter findet seine untreue Frau Giselle nun in den Armen seines besten Freundes, vergibt ihr, stellt sich aber dem nunmehrigen Rivalen, den er in einer monströsen (Chor-) Schlacht zu besiegen sucht. In der Selbsterkenntnis, dass er auf der Welt nichts mehr verloren hat und als Verlierer stirbt Guercoeur (wieder). Im Himmel haben die Allegorien erneut Einsicht mit dem Geläuterten. Da er nun den Sinn seines Ablebens auf der Erde versteht, kommt er endlich zur ewigen Ruhe und findet Erlösung mit dem Worten „Espoir“ auf den Lippen. Der wunderschöne finale Gesang der Figur der Wahrheit könnte aus den Lebensweisheiten des Dalai Lamas stammen. Das Libretto stammt übrigens auch vom Komponisten.

Man stelle sich vor, der Salzburger Jedermann bittet Glaube und Gute Werke, noch einmal zu leben zu dürfen: Der gute Gesell schnappte sich aber inzwischen die Buhlschaft, die Tischgesellschaft erkennt ihren gefeierten Gastgeber nicht mehr. Reumütig geht Jedermann in den zweiten Tod. Um zu erkennen, dass nicht nur unser Leben, sondern auch unser Tod einen Sinn hat?

Wäre Guercoeur nicht ein ideales Werk für die Salzburger Festspiele? Mir fielen auf Anhieb zwei, drei Regisseure ein und auch Dirigenten und Sänger, welche in bester Tradition und als Fortsetzung so großer Legenden wie Don Giovanni, St. Francois d’Assise oder Oedipe diese besondere Geschichte der menschlichen Erlösung auf der Bühne erzählen könnten!

Albéric Magnard: Guercoeur. Michel Plasson, Opera de Toulouse. van Dam, Behrens, Lakes, Denize. Warner Classic - www.warnerclassics.com