Seine Worte finde er in Büchern und Heften, „rausgegeben von diesen Teufelskerlen, diesen Sozialisten“, erklärt der Buchhändler: „Diese Leute setzen sich doch ein für jeden Arbeiter und arme Menschen...“
Die Kommunisten müssen seinerzeit recht wohlmeinend oder recht naiv gewesen sein, wenn sie die triefende Ironie im Libretto von Wir gratulieren! nicht auf's Blut geärgert hat. In heldenhaft tenoralem Gestus gipfelt Reb Alters Lobrede auf „diese Sozialisten“: „Sie setzen sich doch ein für alle armen Schlucker auf der Welt...“ Spitz antwortet freilich die Köchin Bejlja mit einem knappen „Sieh an?!“
Jedenfalls war die„sozialistische Tarnung“ im Moskau der 1970er-Jahre unverzichtbar: „Als Feinde und Unterdrücker werden die 'reichen Leute' ausgemacht, die es zu entmachten gilt“, heißt es im Booklett. Ohne sozialistischen Tarnanstrich hätte das Werk „voller jüdischer Topoi in Russland sonst keine Aufführungschance gehabt“.
Köchin und Buchhändler, Diener und Zimmermädchen proben den Aufstand und feiern in der Küche von Madame Doppelverlobung, während sie doch die Verlobung der Haustochter vorbereiten sollen... Das Libretto basiert auf dem Theaterstück Masel tov von Scholem Alejchem (von dem man in der Regel nur Tewje, der Milchmann in der Brodway-Verballhornung Anatevka kennt). Dessen Lebensdaten (1859-1916) überschneiden sich nicht mit denen von Mieczysław Weinberg (1919-1996). Dennoch wirken Text und Musik im Geiste der Ironie wie aus einem Guss. Das funktioniert sogar in der Übersetzung. Weinberg selber hat am Original kaum etwas verändert, von Ulrike Patow ist ein deutsches Libretto, das dem Text von Henry Koch für die Kammerfassung zugrunde liegt. Und noch immer bleiben deftige Wortmeldungen erhalten, wie die der Köchin Bejlja „Ich koche für sie und brate für sie! So sollen sie doch selbst auf kleiner Flamme schmoren.“
Dank zahlreicher Initiativen um das Weinbergjahr 2019 durften wir die Musik von Mieczysław Weinberg, seine radikale Kammermusik, seine klangsinnliche Opernsprache kennenlernen. An der Oper Graz konnte coronabedingt gerade mal die Premiere der vielsprachigen Oper Die Passagierin um Schuld und vergebliche Hoffnung auf Vergebung (einer Nazi-Handlangerin) Premiere feiern. Die Kurzoper Wir gratulieren! ist eine hochwillkommene Bereicherung zur Werkkenntnis. Dieses Vokalwerk hat in seiner singspielartigen Grundhaltung nichts von der geheimnisvoll-schuldbeladenen Atmosphäre der Passagieren - und verfügt dennoch über ebenso über nachdenklich stimmende bewegende Momente. Im Finale des ersten Teils vertont der Komponist die Grabinschrift auf den Dichter Scholem Alejchem, das berührende Herzstück der Oper. In den Mund gelegt ist es dem Buchhändler, der im übrigen auch für boshafte Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb gut ist.
Die CD-Einspielung eines Live-Mitschnittes schon aus dem Jahr 2012 dokumentiert die deutsche Erstaufführung und die Uraufführung der Kammerfassung am Konzerthaus Berlin. Es singen Olivia Saragosa (Köchin Bejlja), Jeff Martin (Buchhändler Reb Alter), Katia Guedes (Madame), Anna Gütter (Dienstmädchen Fradl), Robert Elibay-Hartog (Diener Chaim). Die Kammerakademie Potsdam spielt unter der Leitung von Vladimir Stoupel. Eine so musikantisch-schwungvolle, wie wortverständlich dem Text dienende Wiedergabe. Ein kostbares Fundstück.