Der Orgeltastentiger und die Singstimmen
CD-KRITIK / JEHAN TITELOUZE
16/04/19 Jehan Titelouze (1563-1633) gilt als einer der Schutzheiligen für Organisten. Was ihn von den meisten anderen französischen Kirchen-Tastentigern seiner Zeit unterschied: Titelouze, fast zeitlebens Organist in der Kathedrale von Rouen, hat auch Vokalwerke komponiert, die freilich weitgehend verloren gegangen sind.
Von Reinhard Kriechbaum
Umso bemerkenswerter ein Notenfund im Jahr 2016 in einer Pariser Bibliothek: ein Konvolut von 26 Stücken, in dem sich vier Messen von ihm finden. Das Ensemble Les Meslanges (Ltg. Thomas Van Essen und Volny Hostiou) legt nun die erste von zwei CDs vor, auf der erst mal zwei dieser Messen vorgestellt werden. Und nicht nur das. Zum Notenfund gehörten auch von Jean de Bournonville in Fauxbourdon-Technik bzw. polyphon gefasste Hymnen und Cantica-Verse. Die Gregorianik, die insbespondere in Frankreich rasch ihren Eigenwert eingebüßt hatte und auf Pfundnoten zurückgestutzt worden war, erschien Musikern und Hörern an der Kippe von der Renaissance zum Barock wohl als zu minder, um es quasi in Dialogform mit der neuen Orgelpracht aufzunehmen. Also war damals mehrstimmiges Aufpeppen angesagt.
Titelouze spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der französischen Barockorgel, mit zwei Manualen und voll ausgebautem, auch mit Zungenstimmen angereichertem Pedal. Das generiert nicht nur Lautstärke: Francois Ménissier führt auf dieser CD in einem Pange Lingua und einem Magnificat Secundi Toni mit pikanter Artikulation vor, wie „sprechend“ Titelouze auch die kurzen Einlagesätze zu den Choragesängen gedacht hat. Er kann dabei auf einer neuen Orgel im Ort Champcueil klanglich absolut aus dem Vollen schöpfen, gehen doch mit den Singstimmen Zinken, Posaunen und ein Serpent mit. Da ist also auch in den Choralzeilen für entsprechendes Klangvolumen und nicht wenig Wirkung gesorgt.
Es wird greifbar, dass Jehan Titelouze für seine Orgel-Einlagesätze sehr genau den Text angeschaut hat. Dieses Hin und Her zwischen gesungenen und Orgel-intonierten Versen ist für heutige Hörer nicht ganz leicht zu verstehen. Damals war ein Magnificat als Teil des Vesper Allgemeingut, den Text hatte Jedermann im Kopf, was einen viel leichteren Zugang zu den Orgelfassungen ermöglichte.
In den beiden Messen bleibt Titelouze im Stil konservativer. Sowohl die sechsstimmige Messe „Cantate“ (eine Choralmelodie konnte als Parodievorlage ausgemacht werden) als auch jene mit dem Namen „In Ecclesia“ zu vier Stimmen sind polyphon durchgearbeitete Stücke. In der vorliegenden Interpretation bekommen sie durch die meist colla parte mit den solistisch besetzten Singstimmen mitgehenden Bläsern gehörigen Effekt. Es lohnt sich, genau auf die Details zu hören: Die Blechbläser diminuieren gediegen, was das Klangbild plastisch macht. Der füllige Klang drückt nicht auf die Ohren, die Stimmführung bleibt gerade wegen der Bläser-Verzierungen klar und durchschaubar.
Les Messes retrouvées de Jehan Titelouze. Hymne, Magnificat & Pièces d'orgue Vol 1. Paraty 918174 – www.prestomusic.com