Als wär's die „Winterreise“
CD-KRITIK / BENNO SCHACHTNER
17/04/18 „O Liebe! Sie verstehen dich so falsch, die sagen, deine süße Frucht sei bitter.“ So heißt es in einem Lied von Tobias Hume. Mag sein, dass der Countertenor Benno Schachtner eine gute Weile lang hat suchen müssen, um ein Lied zu finden, das von Strophe eins bis vier wirklich nicht die Spur eines Schattens auf die Liebe fallen lässt.
Reinhard Kriechbaum
Ja, sie finden sich schon, solch rundum optimistische Gesänge. John Dowlands „Cleare or cloudy“ (das dieser CD den Namen gegeben hat) ist auch so ein Wonne-Song, auch wenn „cloudy“ Bewölkung andeutet. Aber das eigentliche Thema im Elizabethanischen Zeitalter und auch späterhin waren die unweigerlich folgenden Tiefdruckgebiete in der Seelenwetterlage. Henry Purcell lässt seinen Liebhaber in „Fly swift ye hours“ eine Tonkaskade mit Vehemenz abwärts schleudern, um die Stunden zu vertreiben, die ihn von der jungen Dame trennen – aber bald wird klar, dass die Zeit sich schon im alten England im Liebes-Ernstfall gar zu träge dahin schleppte. „Aber wohl niemals liebten die Horen“ wird es zwei Jahrhunderte später in Schumanns Heine-Liederkreis heißen.
Also: gebrochene Stimmungen, verzweifeltes Warten, Resignation und Aufbegehren – die Gefühlsskala auf und ab. Das hat Benno Schachtner, ein Countertenor mit ganz wunderbar entwickeltem literarischen Sensorium, zwischen Dowland und Purcell zu einer erhellenden Liedgruppe gefügt.
Es bieten sich aufschlussreiche Einblicke, denn der Sänger hat keine Scheu vor dem Bekanntesten aus diesem Repertoire. Er findet im vermeintlich Abgedroschensten neue Aspekte. Er führt vor, wie lohnend es ist, Dowlands „Come again“ bis in die sechste Strophe durch zu deklinieren. Die Liebe ist da nicht bloß kurz auf Urlaub, wie der beginn noch hoffen lässt. Guter Grund letztlich, den Tränen freien Lauf zu lassen: Dowlands „Flow my tears“ ist genau so populär wie seine „Lachrimae Pavan“, die der Lautenist Axel Wolf dem Lied nachschickt.
Ein junger Countertenor also, der unerschrocken vertrautes Repertoire neu abklopft. Was die Wortdeutlichkeit und die feinen Abstufungen der Emphase anlangt, setzt Benno Schachtner auf seiner Erstlings-CD Maßstäbe. Die technische Geschmeidigkeit und das beeindruckend ausgeglichene Timbre, die schier schwerelosen Höhen – das stellt er akkurat in den Dienst einer Gestaltung, die nie zu viel will in der kleinen Form.
Schachtner hat für diese Unternehmung auch die rechten instrumentalen Mitstreiter: Bei Dowland hat logischerweise der Lautenist Axel Wolf das erste Wort, aber Jakob D. Rattinger mengt sich nicht selten in der dritten, vierten Strophe ein, mit der Viola da Gamba sanft die Bassstimme mitstreichend oder gezupft verstärkend. Für den Trauer-Gassenhauer „Now, o now, I needs must part“ reichen nicht sieben gesungene Strophen, nach der fünften holt man gleich mit mehreren Instrumentalvariationen zusätzlich aus.
Bei Purcell darf das Continuo reicher sein, da tritt auch Andreas Küppers (Cembalo) dazu, ohne sich ein einziges Mal in den Vordergrund zu drängen: „An Evening Hymn“ fußt auf einem Passacaglia-„Ground“, da schleicht sich das Cembalo erst ins (ohnedies zurückhaltende) „Alleluja“. Eine schöne Abrundung einer Folge von Liebesliedern: Mit Purcell lässt sich in den Armen Gottes sehr glaubhaft längerfristig „süße Geborgenheit“ finden...