Zart und gewaltig. Biegsam und brüchig.

LITERATURHAUS / LESUNG ANDRUCHOWYTSCH

28/06/16 Felix - Schlangenmensch im „Unternehmen für die Zurschaustellung von Künstlern aus aller Welt in europäischer Manier“ und Mitarbeiter von „Chevalier, Magier, Illusionist, Eigentümer des Lemberger 'Colosseum Thorn'“ - ist sprachlos, biegsam und brüchig wie Papier.

Von Ines Hickmann

Der nach dieser papierwesenhaften Schlüsselfigur benannte Roman „Felix Austria“ der jungen ukrainischen Autorin Sofia Andruchowytsch ist 2014 erschienen und gilt als ihr literarischer Durchbruch. Aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt von Maria Weissenböck, kam er als „Der Papierjunge“ 2016 im Residenz Verlag heraus. Bei der Buchpräsentation am Donnerstag (23.6.) in der fragilen „Panorama Bar“ der Stadtbibliothek konnte man eintauchen in die berührende, verstörende, hoffnungsschimmernde Sprachwelt der Autorin.

Um Liebe und Abhängigkeit, um deren Verhältnis zueinander, die Übergänge dazwischen und um die Frage nach deren Unterscheidbarkeit geht es im Roman, so Mariya Donska, die den Abend moderiert. Ausgangpunkt ist die galizische Kleinstadt Stanislau - heute Iwano-Frankiwsk - um 1900.

Stefa und Adelja, zwei Mädchen „wie Tag und Nacht“, die eine Ukrainerin, die andere halb Polin, hab Deutsche, „miteinander verflochten … wie die Stämme zweier Bäume“, wachsen dort gemeinsam auf und leben, als Dienstmädchen und Herrin, auch weiterhin unter einem Dach. Als Adelja den Steinmetz Pedro heiratet entsteht ein „gleichschenkeliges Dreieck“. Dieses Dreieck wird durch das Auftauchen des Magiers Thorn, der mit seinem Zirkus die Stadt besucht und den „Papierjungen“ mit bringt, neu dimensioniert.

Sieben Jahre Entwicklung gewährte Sofia Andruchowytsch ihrem Roman. In akribischer topografischer und historischer Recherche, dabei mit weitem und klarem Blick für gesellschaftliche Details, soziale und psychologische Zusammenhänge, entstand eine „wahre Enzyklopädie des Alltags“. Ein Roman, den man als Reiseführer verwenden kann: Ein Freund und Schriftsteller bietet aktuell einen Stadtspaziergang dazu an.

Entstanden ist aber auch ein Roman, der sich – wie nur wenige ukrainische Bücher – mit der Historie befasst, der in moderner Sprache in den Dialog tritt mit den „alten Autoren, die auf deutsch und polnisch geschrieben haben“. Ein Roman, der seiner Autorin die kleine Stadt, die für sie als Heimatstadt und in ihrer Vielschichtigkeit eine besondere Rolle spielt, wieder näher bringt. Jene Stadt, in der sie in den letzten zehn Jahren viel zu selten gewesen und die mit ihren zwei Flüssen in gewisser Weise Mesopotamien sei.

Im Gegensatz zu Andruchowytschs vorigem Buch „Lachs“, in dem unmittelbare Gefühle wichtig waren, stellt die Autorin in ihrem neuesten Werk das Ineinandergreifen von zwischenmenschlichen Beziehungen und historischen Entwicklungen in den Vordergrund. Mit dem Beginn der Niederschrift entstand der dringliche Wunsch, den Blick besonders auf kleine alltägliche Begebenheiten und weniger auf große politische Ereignisse zu richten.

Zunächst spiegeln sich die oberflächliche Unerschütterlichkeit der österreichisch-ungarischen Monarchie und die Beziehung der beiden Protagonistinnen: Alles scheint so schön, schmuck, harmonisch zu sein, so die Autorin, doch hinter den Kulissen sehe man viel Chaos und Unordnung.

Das Honigsüße aus einer anderen Perspektive suchen. Eine auch für andere begehbare Illusion schaffen. Identitätsfragen aufwerfen: Das sind nur einige der Beweggründe der jungen Autorin, die mit tiefer, warmer, auch kräftiger Stimme aus dem ukrainischen Original liest, während sich die satte Abendsonne wärmend an Gesichter und Körper lehnt. Die deutsche Lesung in der Panorama-Bar hatte Dorit Ehlers übernommen.

Dieses tiefgehende wunderbare Buch, dessen unaufgeregte, klare und anmutige Sprache beunruhigt und berührt, dessen feinsinniger Blick für Details und Wesentliches auffällt, ist besonders - ist zart und gewaltig.

Bild: Alexander Chekmenev