Heim zum neuen Vater

LESEPROBE ELISABETH ESCHER / LITERATUR ONLINE

03/12/20 Das Literaturhaus und die Salzburger Literaturvereine sind Online vielfältig präsent: Das Gedicht zum Tag, der Blog Literatur für den Fall oder gestreamte Lesungen ohne Publikum helfen weiter über den Lockdown. Heute Freitag (4.12.) lesen im Stream Elisabeth Escher und Margarita Fuchs. - Hier eine Lesprobe aus dem Roman Das Fenster zum Himmel von Elisabeth Escher.

Von Elisabeth Escher

Ihr Bewusstsein wachte erst wieder auf, als sie vor dem Tor der „Schönburg“  stand, mit einer Tasche in der Hand, halb so groß wie sie selbst und halb gefüllt  mit ihren wenigen Habseligkeiten. Es war Winter geworden, und an jenem 4.  Dezember sollte es auch niemals Tag werden, zu tief und schwer hingen die Wolken über dem Land, Wolken, aus denen dicke Schneeflocken fielen, die die  Luft nicht aufzuhellen vermochten und die augenblicklich zu Wasser wurden, sobald sie den Boden berührten. Unaufhörlich schneite es. … So stand Marie also da und wartete auf den Vater, der sie abholen sollte, endlich. Denn sie hatten ihr gesagt, dass der Vater sie abholen würde und sie nun  heimkäme. Sie hörte, wie sich das Motorengeräusch eines Fahrzeuges näherte, dann sah sie, wie ein Motorrad das Schneegestöber durchschnitt und auf die Schönburg zufuhr. Schließlich konnte sie einen Mann auf dem Motorrad ausmachen, sah ihn bald ganz genau, und erkannte, dass es nicht der Vater war. Dieser Mann war nicht der Vater!

Die Heimleiterin, die im Schutz des Hauses hinter der verglasten  Eingangstür ebenfalls auf den Ankömmling gewartet hatte, kam nun ins Freie, um den Mann zu begrüßen und ihn in die „Schönburg“ zu bitten, um, wie Marie sie zu ihm sagen hörte, „die notwendigen Formalitäten zu erledigen“. Als er an  Marie vorbeiging, musterte er sie mit einem Seitenblick und zwickte sie dabei mit  dem Daumen und dem Zeigefingerknöchel so fest in die nass-kalte Wange, dass  sich automatisch ihr Mundwinkel hob. „Du kannst ruhig ein wenig freundlicher  dreinschauen, schließlich hol‘ ich dich extra von hier ab“, sagte er und die  Heimleiterin fügte noch hinzu: „Benimm dich ordentlich und mach mir keine Schande, das ist dein neuer Vater.“ Das Wort „Schande“ hatte Marie schon einmal  gehört, sie erinnerte sich gut daran, das war an jenem Tag gewesen, an dem sie die Tante das letzte Mal gesehen hatte, bevor man sie hierher gebracht hatte.  „Schande“ konnte nichts Gutes bedeuten. ...

Nun war sie alleine mit diesem Mann, der ihr so riesig vorkam in seinen kniehohen Stiefeln und dem Mantel, der aus demselben Material zu bestehen schien wie die Stiefel. Eine enganliegende Kappe, die auch die Ohren bedeckte, ließ kein einziges Haar erkennen. „So, jetzt komm“, sagte er und ging zum Motorrad. Maries Tasche schnürte er auf dem Gepäckträger fest, dann hob er Marie hoch, wirbelte sie durch die Luft und warf sie erneut hoch. Es schien ihm Spaß zu machen, denn er lachte immer wieder, wenn er sie hochwarf, um sie dann mit beiden Händen gerade noch rechtzeitig aufzufangen. Als er endlich genug von diesem Spiel hatte, setzte er sie vor sich auf den Sattel und startete das Motorrad. Marie war schon einige Male in einem Auto mitgefahren, aber in einem Auto gab es Glas und Blech zwischen Drinnen und Draußen, und wenn man nicht beim Fenster hinausschaute oder wenn man die Augen zumachte, konnte man sogar meinen, man würde sich gar nicht von der Stelle bewegen. Hier auf dem Motorrad war das eine ganz andere Sache. Marie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, wie sie schneller als der Wind durch die Landschaft flogen.

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Elisabeth Escher: Das Fenster zum Himmel. Roman. 230 Seiten. Bernardus-Verlag, Aachen 2020. 316 Seiten, 17,30 Euro - www.bernardus-verlag.de
Bild: www.elisabethescher.at
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heute Freitag (4.12) um 19.30 auf Einladung der Salzburger Autorengruppe Elisabeth Escher aus Das Fenster zum Himmel und Margarita Fuchs aus Der Mars ist wüst - www.youtube.com
am 10. Dezember um 19.30 Uhr auf Einladung von erostepost Isabel Laczkovich, Martin Ulrich, Alexander Starke, Florian Vernschach und Sebastian Günnel unter dem Motto Lesen lassen - www.youtube.com
am 16. Dezember um 19 Uhr lässt der Verein Literaturhaus den vom 16. Juni verschobenen Bloomsday steigen, wie geplant (jedoch ohne Publikum) mit neuen Kompositionen und Kommentaren zu James Joyce von Kurt Palm - live-Stream via Facebook-Seite von FS1 - www.literaturhaus-salzburg.at