asdf
 

Frei von den Fesseln der Zensur

HINTERGRUND / LITERATURHAUS / UKRAINE

21/04/17 „Die heutige Ukraine ist wie ein Palimpsest, ein Manuskript, in dem Lagen politischer und kultureller Geschichte sich überlappen und einander überschreiben“, erklärt die ukrainische Literaturwissenschafterin Mariya Donska. Das 27. Festival „Europas der Muttersprachen“ widmet sich von 26. bis 28. April der Ukraine. Juri Andruchowytsch und fünf Kolleginnen und Kollegen lesen.

Nicht die Politik sei der Ausgangspunkt, „sondern die aufregende Literatur und Kunst der ukrainischen Gegenwart“, so Literaturhaus-Leiter Tomas Friedmann. Man wolle freilich die Wirklichkeit nicht ausblenden, „denn dieser Raum ist voller Geschichte und Geschichten, die sich auch in Büchern finden – geschrieben auf Ukrainisch, Russisch, Polnisch, Deutsch, Jiddisch, Rumänisch und so weiter“.

Bis 1991 war die heutige Ukraine ein Teil unterschiedlicher politischer Mächte – Polen-Litauens, Österreich-Ungarns, der Tschechoslowakei, des russischen Imperiums oder der Sowjetunion, die im Zusammenspiel mit der ukrainischen Sprache und Bevölkerung die Kultur dieses Raumes prägten. Die unabhängige Ukraine erlebte vor dem Hintergrund totaler Armut und sozialer Katastrophen der 1990er Jahre eine echte kulturelle Renaissance. Sie konturierte die (Kultur)Landschaft des Landes neu: die magisch-irrealen Karpaten von Taras Prochasko, Jazzmelodien in Donbass und die Hinterhöfe von Charkiw von Sherhij Zhadan, idyllisch-dörfliche Bukowina von Maria Matios, das polnische Lwiw (Lemberg) von Wynnytschenko, Ivano-Frankiwsk (Stanislaw) von Juri oder Sofiоa Andruchowytsch werden mit neuen Bedeutungen angereichert.

Frei von den Fesseln der Zensur stürzte sich die neue ukrainische Literatur auf früher verbotene Themen und entwarf früher unmögliche Poetiken. „Auch heute dauert der literarische und kulturelle Boom an – trotz der politischen Wirren“, stellt Mariya Donska, Literaturwissenschafterin am Slawistik-Institut der Universität Salzburg, fest. „Umgekehrt übernehmen die Literaten wie Zhadan, Andruchowytsch oder Sabuschko eine prominente Rolle in den gesellschaftspolitischen Diskussionen, bürgerlichen und karitativen Initiativen und unterstützen die Identitätssuche des Landes, die sich auf dem Euromaidan zuspitzte.“

Natürlich kommt Juri Andruchowytsch zum Ukraine-Festival, in der Auslands-Wahrnehmung ist er ja der führende Gegenwartsautor des Riesenlandes. Weitere fünf Schriftstellerinnen und Schriftsteller machen sich in (zweisprachigen) Lesungen und Gesprächen an drei Abenden dem Salzburger Publikum bekannt. Die Heldinnen von Natalka Sniadanko und Kateryna Babkina sind junge ukrainische Frauen, die die Grenzen der bekannten Welt überschreiten und denen ein mühsam ergattertes Schengen-Visum die Tore öffnet, um lustige, skurrile oder gefährliche Abenteuer zu erleben. Unter dem Motto „Lebensläufe, Alltagswunder“ gibt es Begegnungen mit dem in seiner Geburtsstadt Iwano-Frankiwsk lebenden Schriftsteller Taras Prochasko, der in Wien angesiedelten Tanja Maljarschtuk und mit dem russisch schreibenden Bestsellerautor Andrej Kurkow aus Kiew.

Ab 26. April bis 30. Juni ist die Foto-Serie „Die Siege der Besiegten“ von Yevgenia Belorusets im Literaturhaus zu sehen. Sie konzentrierte sich auf Gemeinden in der Ostukraine nahe den Kampfhandlungen und nildete das alltägliche Leben der Menschen ab. Sie weiß, dass Geschichte von den Siegern geschrieben wird, dass die Besiegten ihrer Stimme beraubt werden. „Aber gibt es nicht auch die von den Besiegten geschriebene Geschichte?“ fragt die Künstlerin und Autorin.

„Es gibt kein Literaturhaus, das in und neben seinem ganzjährig laufenden Programm ein Festival wie jenes von 'Europa der Muttersprachen' (seit 1995) plant, organisiert und aus seinem Jahresbudget stemmt“, sagt Tomas Friedmann. Denn dazu bedürfe es intensiver Vorarbeiten, Kontakte, Kooperationen mit ausländischen Partnern und der Mitarbeit von Experten, Übersetzern, Moderatoren und Schauspielern – sowie eines engagierten Teams vor Ort. „Auch wenn dieses Festival im Literaturhaus Salzburg meist „nur“ drei Tage dauert, muss fast ein Jahr lang immer wieder daran gearbeitet werden, geht es schließlich um inhaltliche Konzepte, die organisatorisch zu bewältigen sind, zuletzt sollen alle eingeladenen Autorinnen und Autoren, Künstlerinnen und Künstler genau zu einem bestimmten Zeitpunkt im Frühjahr in Österreich – oft mit anderen – auftreten.“ Und Friedmann betont: Es sei wichtig, nicht ein „Land“ in den Mittelpunkt zu stellen, keine nationalen „Vaterlandsgefühle“ zu wecken, „sondern aufgeschlossen kritisch Themen, Inhalte und Formen zur jeweiligen (Mutter)Sprache zu bringen“. Aus den Begegnungen erwüchsen manchmal Freundschaften und Verbindungen, „wie etwa jene zur bedrohten türkischen Autorin Asli Erdogan, die beim Türkei-Festival 2009 teilnahm und um deren Freispruch wir uns mit anderen bemühen“.

Europa der Muttersprachen. Ukraine. Von 26. bis 28. April im Literaturhaus Salzburg
Bilder: Literaturhaus Salzburg / Kateryna Slipchenko; Alina Kondradenko; Susanne Schleyer; Fotowerk Aigner

 

DrehPunktKultur - Die Salzburger Kulturzeitung im Internet ©2014