Sieht man dem Messias entgegen, kommt der Dorfpolizist

LESEPROBE / ALEJCHEM / EIDHERR / TEWJE, DER MILCHMANN

21/06/16 Scholem Alejchem, geboren 1859 als Scholem Rabinowitsch, stammte aus der Ukraine, war sein halbes Leben auf der Flucht und emigrierte nach den Pogromen in Kiew 1905 in die USA. Als er im Mai 1916 starb, folgten hundertfünfzigtausend Menschen seinem Sarg auf den Friedhof von Brooklyn. Unsterblich machte ihn „Tewje, der Milchmann“. - Hier eine Leseprobe.

Von Scholem Alejchem, Übersetzt von Armin Eidherr

Geh aus deinem Vaterland

Und es war in den Tagen des Mendel Beilis – das heißt, es war genau zu jener Zeit, als man Mendel Beilis, unseren Sündenbock, mit dem Ritualmordprozess schon hier einiges von den Qualen der Höllen erleiden ließ, seine Seele für fremde Sünden geläutert wurde und die Welt in Aufruhr war – da sitze ich einmal so vor meinem Hause auf der Hausbank, ganz in Gedanken vertieft. Herrlichster Sommer. Die Sonne backt, und der Kopf ist trächtig: «Ich weiß nicht, was soll das bedeuten, wie ist das nur möglich! Heutige Zeiten! So eine kluge Welt! Solch großartige Menschen!Und wo ist Gott? Der alte jüdische Gott? Warum schweigt Er? Wieso lässt Er so etwas zu? Was soll das, was soll das und noch einmal was soll das?» Und wenn man sich über Gott so seine Gedanken macht, vertieft man sich dabei automatisch in Himmelsangelegenheiten und kommt ins Philosophieren: Was ist diese Welt? Und was ist jene Welt? Und warum kommt nicht endlich der Messias? «Ei», denke ich mir, «er würde wie ein weiser Mann handeln», ich meine hiermit den Messias, «käme er gerade jetzt auf seinem weißen Pferd zu uns herabgeritten! Das wäre eine wunderbare Sache! Er wäre, will mir scheinen, für unsere Brüder, die Kinder Israel, noch nie so nötig wie heutzutage gewesen! Ich weiß nicht, wie das die Reichen, die Brodskis, zum Beispiel, in Jehupez oder die Rothschilds in Paris sehen? Es kann gut sein, dass sie sich einen feuchten Dreck um ihn scheren; aber wir Juden, wir armen Leute aus Kaßrilewke und aus Masepewka und aus Slodeiewka und auch aus Jehupez und auch aus Odessa erwarten ihn, oj, und wie wir ihm entgegensehen! Die Augen treibt es uns richtiggehend aus dem Kopf! Unsere ganze Hoffnung richtet sich jetzt doch nur darauf, ob Gott nicht vielleicht noch ein Wunder geschehen und den Messias kommen lässt!»
Derweil, wie ich, in diese Gedankengänge vertieft, dasitze, blicke ich einmal auf – ein weißes Pferd! Und jemand reitet darauf! Und gradewegs auf mein Haustor zu! Brrr – stehen geblieben, heruntergestiegen, das Pferd beim Tor angebunden und direkt an mich gewandt: «Grüß Gott, Tobias!»
«Grüß Gott, grüß Gott, Euer Wohlgeboren!», entgegne ich umständlich, und im Herzen denke ich mir: Und da tritt Haman auf – kommentiert Raschi: Sieht man dem Messias entgegen, kommt der Dorfpolizist … Und ich stehe auf vor ihm, vor dem Dorfpolizisten heißt das: «Herzlich willkommen der Gast», sage ich, «was gibt es Neues auf der großen Welt, und was hast du», sage ich, «mir denn Gutes zu sagen, mein Herr Gewalthaber?» Und das Herz springt mir fast aus dem Leib – ich will schon wissen, was gespielt wird.
Doch er, der Dorfpolizist heißt das, hat keine Eile. Er steckt sich genussvoll ein Zigarettchen an, bläst den Rauch hinaus, spuckt aus und sagt zu mir: «Wie viel Zeit würd’st du denn so etwa benötigen, Tobias, damit du», sagt er, «deine Hütte mit all deinen Sackeln und Packeln verkaufen könnt’st?»
Schau ich ihn an: «Wozu», sage ich, «sollte ich meine Hütte», sage ich, «verkaufen? Wen, zum Beispiel», sage ich, «engt sie ein?»
«Sie engt», sagt er, «niemanden ein. Aber ich bin gekommen», sagt er, «dich des Dorfs», sagt er, «zu verweisen.»
«Ist das alles», sage ich, «nicht mehr? Für welche guten Taten? Womit», sage ich, «habe ich bei dir solch Ehre verdient?»
«Das bin nicht ich, der dich fortschickt», sagt er, «das Gouvernement schickt dich fort.»
«Das Gouvernement?», sage ich. «Was hat es denn über mich herausgefunden?»
«Es betrifft nicht nur dich allein», sagt er, «und nicht nur Leut’ von hier, sondern von allen Dörfern ringsherum, von Slodeiewka», sagt er, «und von Rabilewka und von Kostolomewka; und sogar», sagt er, «Anatewka, das bis zu diesem Zeitpunkt ein Städtl war, wird nun auch schon», sagt er, «ein Dorf, und man wird von dorten alle», sagt er, «hinaustreiben – all die Eurigen!»
«Sogar Leiser-Wolf, den Fleischhauer?», frage ich. «Und Naftali-Gerschon, den Spötter, auch? Und den dortigen Schächter? Und den Rabbi?»
«Alle! Alle!», sagt er und macht eine Handbewegung, alswürde er etwas mit einem Messer abschneiden.

Nun, jetzt frag’ ich Euch, Herr Scholem Alejchem, der Ihr doch ein Mann seid, welchselbiger schreibt – hat nicht Tewje recht, wenn er sagt, dass wir einen starken Gott haben und dass sich ein Mensch, solange er lebt, niemals verloren geben darf, und vor allem ein Jude, und vor allem ein solcher, dem die Unsrigen nicht fremd sind – die heiligen Schriften! Denn am Ende, hört Ihr, stellt sich immer wieder heraus, was wir jeden Tag im Gebet sagen: Heil denen, die sitzen – dass dem wohl und gut ist, welcher kann … Und wie wir uns auch den Kopf zermartern und auch nicht mit Überinterpretationen daherkommen wollen, wir müssen gestehen, dass wir Juden doch das beste und klügste Volk von allen Völkern sind, wie der Prophet sagt: Wer ist noch so ein Volk wie dein Volk Israel – wie kann ein Goj mit einem Juden sich vergleichen? Ein Goj ist ein Goj, und ein Jude ist immerzu ein Jude, wie Ihr selbst in Euren Geschichtenbüchern sagt: Als Jude muss man geboren sein … Heil dir, jüdisches Volk – wohl mir, dass ich als Jude geboren wurde, denn nur so weiß ich, wie die Diaspora im Reiche des Iwan und die Herumzieherei zwischen den Völkern schmeckt! Und ich kenne den Geschmack des Sie sollen fortziehen und sich lagern – wo der Tag verbracht wurde, dort soll nicht genächtigt werden; denn seit man mit mir den Wochenabschnitt Geh aus deinem Vaterland durchgenommen hat – erinnert Ihr Euch, wie ich Euch davon einmal in extenso erzählt habe? –, befinde ich mich noch immer auf Wanderschaft und weiß von keinem Ruheort, auf dass ich sagen könnte: «Ja, genau hier, Tewje, kannst du dich niederlassen!» Aber Tewje stellt keine Fragen. Man hat ihm gesagt, er solle gehen – also geht er … Und da sind wir Euch heute begegnet, Herr Scholem Alejchem, da, hier, in der Eisenbahn. Morgen könnte es uns nach Jehupez verschlagen, und nächstes Jahr könnten wir nach Odessa, nach Warschau oder gar nach Amerika geschleudert werden – es sei denn, der Höchste würde sich einmal umsehen und sagen: «Wisst ihr was, Kinderchen? Jetzt werde ich euch endlich einmal den Messias hinunterschicken!» … Ach, würde Er uns doch das einmal zufleiß tun, der alte Herr der Welt! – Derweil seid mir gesund, fahrt wohlbehalten und lasst mir unsere Juden recht schön grüßen, und richtet ihnen dorten aus, sie mögen sich nicht sorgen: Unser alter Gott lebt!

Mit freundlicher Genehmigung des Manesse Verlages

Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann. Roman. Aus dem Jiddischen übersetzt und mit einem Nachwort von Armin Eidherr. Manesse Verlag Zürich 2016. 276 Seiten, 25,70 Euro – Tewje, der Milchmann
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