Die wandernde Kulturhauptstadt der Roma

LESEPROBE / KARL-MARKUS GAUß

12/02/16 Manche Leute – im Dachverband Salzburger Kulturstätten etwa – denken darüber nach, wie man möglichst effizient hinarbeiten könnte auf Salzburg als Europäische Kulturhauptstadt 2024. Der Schriftsteller Karl-Markus Gauß hätte da ganz andere Ideen. Sein Herz schlägt, wie man weiß, ganz stark für die randständigen Europäer - und für jene, die es mitten unter uns sehr schwer haben. Eine Leseprobe.

Von Karl-Markus Gauß

Es gilt dafür ein- und aufzutreten, dass die Europäische Union, wenn es wieder darum geht, eine Kulturhauptstadt zu wählen, Originalität und Mut beweisen möge und sich auch bereit erweise, für ein Mal von ihren selbst gestellten Regeln abzuweichen: Warum nämlich könnte zur europäischen Kulturhauptstadt nicht erstmals keine bestimmte Stadt, sondern gewissermaßen eine wandernde Stadt gekürt werden, die Stadt der Roma? Was ist damit gemeint? Jedenfalls eine Sache mit vielen Facetten, die länderübergreifend angelegt sein muss und nicht eine Stadt alleine ins Zentrum rückt, mag die nun für ihre verkannte Schönheit oder ihre aufstrebende Urbanität ausgewählt und ausgezeichnet werden.

Es gibt zahllose Städte, berühmte und überregional kaum bekannte, die man zwar nicht einfach als Roma-Städte bezeichnen kann, in denen aber, von Spanien bis Bulgarien, ganze Stadtviertel fast nur von Roma bewohnt werden.

In den allermeisten dieser Städte sind die Reviere der Roma entweder ungeplant durch raschen Zuzug der aus ihren einstigen Berufen und sozialen Sicherheiten gerissenen Roma entstanden; in anderen sind solche Viertel strategisch von der Stadtverwaltung ausgewählt worden, damit jene Stadtteile, die vorher über Generationen von Roma bewohnt wurden, großflächig abgerissen und einer profitablen städtischen Neuordnung zugeführt werden konnten.

Solches war in der Kulturhauptstadt von 2013, Košice, der Fall, aus dessen prächtig restaurierter Altstadt zuerst Abertausende dort lebender Roma von militärischen Einheiten auf Lastwägen verfrachtet und in eine weit außerhalb der Stadt hochgezogene Trabantensiedlung ausgesiedelt werden mussten, damit die von der Europäischen Union später ahnungslos gerühmte innerstädtische Restaurierung überhaupt begonnen werden konnte.

Ähnliches geschieht gerade in Istanbul, in dem nach dem historischen Roma-Viertel Sulukule, das um die Jahrtausendwende ethnisch gesäubert wurde, neuerdings Tarlabasi, eines der ältesten Quartiere der Roma, profitabel demoliert wird, damit hier ein Einkaufsviertel im Erdoganschen Monumentalstil entstehen möge.

Natürlich gibt es, je weiter gegen Osten man in Europa kommt, Kleinstädte und Dörfer, in denen die Roma nicht am Rande größerer Gadsche-Gemeinden siedeln, sondern die Mehrheit stellen.

Wenn ich von der Stadt der Roma spreche, die zur europäischen Kulturhauptstadt gewählt werden möge, gehe ich also von einer Spannweite urbaner Architektur und urbanen Lebens aus, wie sie größer kaum sein kann: Sie reicht von Großstädten mit Roma-Vierteln bis zu Kleinstädten, in denen sich spezifische Traditionen der Bau- und Lebenskultur der Roma erhalten haben; sie reicht von kommunal hochproblematischen Zonen am Rande von Millionenstädten bis hin zu dörflichen Slums, die sich auf den vergifteten Böden aufgelassener Industriekombinate gebildet haben; sie reicht von gelungenen Formen städtischer Integration mittels einer architektonisch innovativen und sozial verantwortliche Stadtplanung bis zum Wildwuchs von oft binnen wenigen Monaten entstehenden Dritteweltstädten inmitten und am Rande europäischer Metropolen.

Das Projekt benötigt die Phantasie, Sachkenntnis, das leidenschaftliche Interesse von möglichst vielen Architekten, Stadtplanern, Soziologen und böte ihnen die Chance, mittels Studienaufenthalten und Recherche erst einmal zu einer provisorischen Bestandsaufnahme dessen zu gelangen, was Wohnen und Hausen für Millionen Europäer bedeutet. Es böte sich die Gelegenheit, interdisziplinär zu neuen Konzepten urbaner Entwicklung zu gelangen und diese zu erproben.

Ich weiß es aus Eigenem: Nicht einmal ein Slum gleicht dem anderen, und kein Slum ist nur ein Slum. Ich bin in Slums geraten, die ohne jedwede Infrastruktur auskommen, in denen die Bewohner ihre Notdurft bei einer Grube fünfzig Meter von ihren wackeligen Hütten entfernt verrichten und jedes Frühjahr wieder der nahe Bach mit seinem Hochwasser die Siedlung unter Wasser setzt und über Monate mit Schlamm und Morast überzieht. Und ich habe andere Slums gesehen, die immer noch Slums sind, in denen aber eine wie einfach auch immer ausgestattete Infrastruktur das Leben der dortigen Bewohner vergleichsweise – vergleichsweise! – angenehmer macht: Weil es eine Kanalisation gibt, die zwar nicht unseren Ansprüchen entspricht, aber den Ort doch von Fäkalien frei hält, weil die Häuser simpel, aber wetterfest gefertigt sind, sodass es auch bei Unwetter nicht durch das Dach hereinregnet, weil es ein kleines kommunales Zentrum gibt, in dem eine Waschmaschine steht, für deren Nutzung sich die Bewohner einen zeitlichen Plan erstellt haben, und weil in einem winzigen Behandlungsraum einmal im Monat ein Arzt aus der Kreisstadt ordiniert...

Auch dieser Ort ist ein soziales und ethnisches Ghetto, bleibt ein Slum, aber er bietet denen, die dort leben und leben müssen, doch wesentlich mehr, was die Befriedigung ihrer sozialen Grundbedürfnisse betrifft und, ja, er bietet ihnen damit den sozialen Raum für ein besseres Leben.

Wir alle können uns eine Welt vorstellen, in der kein Mensch mehr in einem Slum leben muss; aber bis es so weit ist, lassen sich mit relativ geringen Mitteln, mit Phantasie und sozialer Empathie von Architekten, Sozialarbeitern, Regionalentwicklern und anderen die Lebensverhältnisse von Millionen europäischer Slumbewohner erheblich verbessern.

Eine Voraussetzung allerdings ist zu beachten, ohne die alles schöne Planen zu gar nichts führen wird: Dass man nämlich nicht Gutes für die Roma tun kann, wenn man es nicht mit ihnen tut. Wer sich paternalistisch daran macht, ihnen, weil sie selbst nicht wissen, was für sie gut ist, den Fortschritt vor ihr Haus zu liefern und in ihren Ort zu setzen, der wird jämmerlich scheitern.

Angeblich hat die Europäische Union in den letzten Jahren Milliarden von Euro an die diversen Staaten ausbezahlt, damit diese das Geld zur Förderung ihrer jeweiligen Roma-Bevölkerung verwenden. In welchen trüben Abwasserkanälen der Korruption sie auch versickert sind, bei den Roma selbst ist davon jedenfalls nicht viel angekommen.

Aber auch dort, wo man wohlmeinend das Eine oder Andere für sie tun wollte, war jedes noch so schön ausgedachte Projekt zum Scheitern verurteilt, wenn es für die Roma gedacht, aber ohne sie geplant und verwirklicht wurde.

Das Experiment, die Roma aus verfallenden historischen Innenstädten oder aus wild entstandenen dörflichen Slums abzusiedeln und irgendwohin auf der grünen Wiese in gut ausgestattete Wohnsiedlungen zu verpflanzen, ist fast überall, wo es unternommen wurde, glorios gescheitert. Es kann, wem die Emanzipation der Roma ein Anliegen ist, sie nicht ihres Anrechts enteignen, über das, was man wohlmeinend für sie zu tun gedenkt, mitentscheiden zu lassen. Die Roma bedürfen unserer Hilfe; sie bedürfen nicht der Entmündigung.

Karl-Markus Gauß hat auch andere Ideen, wie man Gutes bewirken und Verständnis wecken könnte für die Kultur der Roma- und Sinti: etwa ihre reichhaltige Literatur auf großen Buchmessen vorzustellen. Auch das spricht er an in seinem – hier stark gekürzten – Vorwort-Text zu: Erika Thurner, Elisabeth Hussl, Beate Eder-Jordan (Hrsg.): Roma und Travellers. Identitäten im Wandel. innsbruck university press, Innsbruck 2016, 384 Seiten, 32,90 Euro – www.uibk.ac.at
Bild: Otto Müller Verlag Salzburg / Kurt Kaindl