Der arme Wilde ohne Maschin’

LEKTÜRE VORAB / KLUPP / PARADISO / RAURISER LITERATURPREIS

06/04/10 Ein gestrandeter Roadmovie-Star, angewiesen auf Mitfahrgelegenheit und die Barmherzigkeit von Fernfahrern und blonden Schlampen - das ist der Ich-Erzähler in Thomas Klupps Roman „Paradiso“, für den der 1977 in Erlangen geboren Autor morgen Mittwoch (7.4.) den Rauriser Literaturpreis erhält. Vielleicht etwas zu sehr auf Pointe geschrieben, aber egal. Klupp versteht sein Handwerk. „Paradiso“ enthält alles, was ein gebrochener Ich-Erzähler auf der Suche nach sich selbst braucht: Provinz, Pubertät, Pickel. Es geht um Frauen und Drogen, um Weltekel und um literarische Erfahrungen ("Ich kenne eine Menge Leute, die zu viel Hesse gelesen haben und dann überzeugt waren, sie seien moderne Siddhartas oder Goldmunds."). Zudem ist Klupp ein Meister der schnell zu entdeckenden literarischen Referenz. In welche Situation er seinen Alex Böhm auch verwickelt - der Literaturkanon ist nie weit. Das schrieb die „Süddeutsche“ voriges Jahr über Thomas Klupps Romanerstling. - Hier eine Leseprobe.

VON THOMAS KLUPP

altEs ist noch früh am Nachmittag und glühend heiß, und ich stehe hier an einer Raststätte gleich bei Potsdam und warte darauf, bald wegzukommen. Obwohl ich im Schatten des Tankstellendachs stehe und nur eine kurze Hose und ein ärmelloses T-Shirt trage, schwitze ich, als hätte ich Gewichte gestemmt. Das Shirt klebt mir im Nacken, und weil es neu ist und ich vergessen habe, es zu waschen, juckt es am Saum ganz schlimm. Ich bekomme sicher einen Ausschlag davon, weil ich eine sehr empfindliche Haut habe, die so etwas nicht verzeiht. Über mir schnarrt ein Gebläse, das den Benzingeruch mit warmer Toilettenluft mischt, und während ich den Gestank einatme, schaue ich immer wieder zu den Zapfsäulen. Ein paar Leute tanken dort ihre Autos voll, und ich bin mir sicher, dass mich jeder einzelne von ihnen für einen Tramper hält. Wie ich neben meinem Rucksack an der Wand des Tankstellenshops lehne und dauernd so verstohlen hinüberblinzle, muss das auch so wirken: als würde ich gerade eine Pause machen und im nächsten Moment schon wieder mein bemaltes Pappschild rausstrecken, an alle möglichen Scheiben klopfen und betteln, dass ich einsteigen darf. Würde ich mich nicht so matt fühlen, ich glaube, ich würde den Leuten reihum erzählen, dass ich hier auf meine Mitfahrgelegenheit warte und übrigens selbst ein Auto habe, das momentan bloß in der Werkstatt ist. Das wäre nicht einmal gelogen, meine Eltern haben mir vor kurzem eins geschenkt, so ein kleines rotes mit Schiebedach, und vor ein paar Tagen hat es meine Freundin dann zu Schrott gefahren. Ihr selbst ist nichts passiert, nicht einmal eine Schramme hat sie abgekriegt, nur das Auto war hinüber. Sie ist gegen einen Baum gefahren oder vielleicht war es ein Laternenmast. Ich bin mir nicht ganz sicher, ich habe nicht weiter nachgefragt. Johanna hat andauernd geweint und sich dabei hysterisch entschuldigt, und ich wollte nicht den Anschein erwecken, als ginge es mir ums Blech. Ehrlich gesagt war es mir tatsächlich egal, dass das Auto kaputt war und jetzt Reparaturkosten anfallen und die Versicherungsgebühren höher werden und so weiter. Mein Vater kümmert sich um solche Sachen, er kennt da alle Tricks.

Damit hier auch wirklich keiner auf falsche Gedanken  kommt, lehne ich mich extra unbeteiligt gegen die Wand und schaue konsequent nur auf meine Schuhspitzen hinunter und auf die eingetretenen Kaugummis im Asphalt. Nur ab und zu schaue ich hoch, und zwar wenn Frauen und Mädchen in kurzen Kleidern und Röcken vorbeilaufen, was recht häufig passiert, ich stehe nämlich gleich neben dem Toiletteneingang. Ich kann die Aussicht aber gar nicht genießen, weil das Jucken immer penetranter wird und ich mich mit aller Kraft konzentrieren muss, nicht zu kratzen; sonst rubbeln die Fingerspitzen die gefärbten Baumwollfasern noch tiefer in die Haut, und dort fangen sie erst richtig zu brennen an. Das ist dann wirklich unerträglich, so als würde man barfuß in einen Ameisenhaufen steigen oder mit kurzen Hosen durch Brennnesselstauden waten. Mein Opa hat das manchmal gemacht, gegen sein Rheuma, aber der war ja auch ein Bauer und hatte keine Allergien, der war immer an der frischen Luft. Und während ich noch meinen Opa vor mir sehe, wie er mitten im Wald in einem Ameisenhaufen steht und mich dauernd überreden will, mit hineinzusteigen, fällt mir ein, dass meine Mitfahrgelegenheit ein Förster ist. Ein Starnberger Förster mit einem gelben Passat, das hat er zumindest gesagt. Wir waren um Punkt eins verabredet, und wenn ich mich nicht täusche, ist es schon mindestens zwanzig nach.

Ich warte noch zehn Autos ab, dann gehe ich auf einen silbernen Sportwagen zu, so ein Audi TT-Modell mit diesen kompakten Tankdeckeln an der Seite, der weiter vorne bei den Mülltonnen parkt. Auf dem Beifahrersitz kramt eine ziemlich hübsche Blondine in ihrer Handtasche herum, und ich lächele ihr freundlich entgegen und frage sie, wie spät es ist. Das heißt, ich will sie das fragen, komme aber überhaupt nicht dazu, weil sie direkt vor meiner Nase den automatischen Fensterheber betätigt. Mit einem leisen Surren fährt die Scheibe hoch, und darin spiegelt sich zuerst mein Körper und dann mein Gesicht. Die Blondine schaut jetzt in die andere Richtung, so als hätte sie mich gar nicht bemerkt und als wäre die Sache mit der Scheibe reiner Zufall. Zuerst bin ich noch von meinem Gesicht irritiert, ob das wirklich so unangenehm breit aussieht wie in der Spiegelung, aber dann werde ich wütend. Ich kenne das schon von mir, so eine jähe, abgrundtiefe Wut, die mich zu allem fähig macht, und ich denke mir, wie traurig es ist, dass die Natur so absolut widerliche Menschen hervorbringt, die leider auch noch schön sind und reich. Die guten Menschen, denke ich, sollten schön sein und Glück haben mit allem und die schlechten hässlich und bald sterben. Was ja leider nicht der Fall ist, aber ich wünsche es mir trotzdem, und vor allem wünsche ich mir, das dieser Frau zu sagen. Stattdessen drehe ich mich um und murmle das Wort Schlampe in mich hinein. Genau gesagt murmle ich das Wort erst in mich hinein, nachdem ich mich umgedreht habe, so dass die Frau es auch bestimmt nicht hört.

Mit freundlicher Genehmigung des Berlin Verlages.
Thomas Klupp: Paradiso. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2009. 207 Seiten 7,95  Euro.

Thomas Klupp erhält morgen Mittwoch (7.4.) den Rauriser Literaturpreis 2010. Die Festrede zum Jubiläum „40 Jahre Rauriser Literaturtage“ hält Bodo Hell, die Laudatio auf Thomas Klupp die Autorin und Rauris-Jurymitglied Julia Schröder. Eröffnet werden die vierzigsten Rauriser Literaturtage von Bundesministerin Claudia Schmied um 19 Uhr im Gasthof Grimming. - www.rauriser-literaturtage.at