Vom antiprovinziellen Affekt und anderen Emotionen

LESEPROBE / GAUSS / LOB DER SPRACHE, GLÜCK DES SCHREIBENS

11/03/14 Die Fremde muss nicht immer weit im Osten liegen. Karl-Markus Gauß, Wanderer an den östlichen Rändern der Welt, verspricht in seinem neuen Essayband, diesmal auch in Unken oder Strasswalchen vorbeizuschauen. – Hier eine Leseprobe.

Von Karl-Markus Gauß

Mein Kasache

473Letzte Woche hatte ich in Wien zu tun, und als ich den Frühzug in Salzburg bestieg, war im offenen Abteil nur mehr ein einziger Platz frei, sodass ich gegenüber einem muskulösen Mann von dreißig Jahr en zu sitzen kam. Sein Schädel war kahl rasiert, der rechte Unterarm radikal tätowiert, die Lederjacke, die er umgehängt hatte, mit seltsamen Emblemen verziert, und die Dose Bier, die er in seiner Pranke hielt, jede halbe Stunde eine neue. Kurz, es handelt e sich um einen Kerl, dem man abends in einer stillen Straße so ungern begegnet, wie man ihm vormittags drei Stunden im Zug gegenübersitzt.

Als ich ihn bis Wels verstohlen gemustert hatte, sagte ich mir: ein Kasache! Diese Backen-knochen, diese Augen – das musste ein Kasache sein! Alle Kasachen, denen ich begegnet war, hatten solche Backenknochen und Augen gehabt. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn erstens verbiete ich mir rassekundliche Einschätzungen prinzipiell; sie stoßen mir nur manchmal gewissermaßen zu, ganz gegen meine Absicht. Und zweitens: Ein Ausländer – und ausgerechnet ich verspürte eine instinktive Abwehr, die auf nichts als Äußer lichkeiten beruhte, denn der Kasache sprach ja die ganze Zeit über kein einziges Wort. Waren denn die Ressentiments, die ich bei meinen Landsleuten im Speziellen und den Europäern im Allgemeinen zu geißeln pflege, auch die meinen?

Dann geschah etwas Aufregendes. Als der Zug St. Pölten gerade verlassen hatte, stürmten zwei Mann und eine Frau den Waggon, sie schauten nicht links, nicht rechts, und sie suchten nicht, denn sie wussten, wo sie wen zu finden hatten. Meinen Kasachen natürlich. Ohne weitere Erklärung herrschten sie ihn an: „Austrian police. Control. Passport.“ Der wilde Kasache war so eingeschüchtert, dass er nicht wusste, was zu tun war. „Documents! Police!“ Der eine Beamte, der ausschaute, als würde er seine Zeit seltener im Amt als in der Kraftkammer verbringen, war einen Schritt näher getreten. Der zweite, ältere, einen zurück. Alles deutete darauf hin, dass die Situation in Kürze eskalieren würde.

Zitternd fingerte der Kasache endlich einen roten Pass aus der Lederjacke. Der ruhigere, ältere Polizist öffnete ihn, las verwundert einen urwienerischen Namen vor, verglich das Foto mit dem Reisenden und reichte das Dokument dann mit einem knappen „Danke“ zurück. Die fesche Polizistin, die einen aufgeklappten Laptop bei sich trug, brauchte gar nicht erst im Computer nachzuschauen. Mein Kasache war ein Favoritner. Kein zugezogener Neu-Favoritner, sondern einer von Urgroßvaters Zeiten an, den das rätselhafte Schicksal mit einem originalkasachischen Gesicht versehen hatte. Als die Polizisten ebenso rasch, wie sie gekommen, wieder verschwunden waren, fragte ich ihn perplex: „Was war  denn das jetzt?“ „Naja“, antwortete er mit einer Verachtung, die sich nicht auf die Amtshandlung bezog, „irgend so einen Asylanten werden sie gesucht haben.“ Da wurde mir ganz heimelig ums Gemüt. Mein Landsmann war mir von Herzen unsympathisch, und ich brauchte nicht die Spur von schlechtem Gewissen dabei zu haben.

Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlages

Karl-Markus Gauß: Lob der Sprache, Glück des Schreibens. Otto Müller Verlag, Salzburg 2014. 190 Seiten, 19 Euro/E-Book 15,99 - www.omvs.at
Die Erstpräsentation von „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“ ist am Dienstag (11.3.) um 20 Uhr in der Panoramabar der Stadtbibliothek. Diese ist längst ausgebucht, deshalb wird es einen Live-Stream über Internet geben (https://proj.adobeconnect.com/stadtbibliothek), wo man sich im Chat beteiligen und auch Fragen stellen kann.