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Roman von den letzten Dingen

LESEPROBE / DANIEL WISSER / KÖNIGIN DER BERGE

19/12/18 Eine „Gratwanderung zwischen todtraurigem Thema und fulminantem Sprachwitz“: Für seinen Roman über einen unheilbarkranken Mann, der sich „hinter dem Rücken der Figur zu einem Plädoyer für das Leben“ entwickelt, hat Autor Daniel Wisser unlängst den Österreichischen Buchpreis erhalten. – Hier eine Leseprobe aus „Königin der Berge“.

VON DANIEL WISSER

1. Aus der Rollstuhlperspektive

Ich liebe Schwester Aliki. Aliki. Aliki. Aliki. Und keine andere. Schwester Aliki macht alles richtig: Sie lässt die Tür zu meinem Zimmer einen Spaltbreit offen, sie stellt die Schnabeltasse mit dem Früchtetee immer auf meine linke Seite, sie will mir die Whiskeyflasche in meinem Nachtkästchen nicht wegnehmen, sie rügt mich nicht, wenn ich in der Cafeteria Wein trinke, und sie animiert mich nicht dazu, in den Garten zu gehen. Wenn Schwester Aliki Dienst hat, möchte ich ausschließlich von Schwester Aliki betreut werden. Wie oft habe ich ihnen das schon gesagt! Doch obwohl Aliki Dienst hat, schicken sie mir heute eine neue Schwester. Ich kenne sie nicht, ich habe sie nie zuvor gesehen. Ob sie mich wohl in die Schweiz fahren würde?
DIE NEUE: Grüß Gott, Herr Turin!
Alle wissen, dass mein Name auf der ersten Silbe betont wird. Die neue Schwester betont meinen Namen auf der zweiten Silbe, wie die italienische Stadt. Außerdem hasse ich dieses ewige Grüß Gott. Ich muss ihr alles erklären, aber ich weiß nicht, wie sie heißt. Das Namensschild kann ich nicht lesen.
DR. STEINHÄUSER: Dem Krankheitsverlauf entsprechende Visusminderung.
Es wird immer schlimmer mit den Augen. Bald werde ich mit einer Lupe lesen müssen, wie die alte Ditscheiner von Zimmer 407. Manchmal sehe ich tagelang alles verschwommen, dann wieder sehe ich nur auf einem Auge. Schließlich ist alles wieder in Ordnung, und die Schwestern glauben mir nicht. Die Königin der Berge nimmt mir das Augenlicht, schön langsam, bis ich völlig blind sein werde. Die Sehnerventzündung kommt immer wieder, dann beginnt alles von vorne: Augenarzttermine, Gesichtsfeldmessungen, wieder andere Medikamente.
DIE NEUE: Möchte Herr Turin vielleicht in den Garten gehen, ein wenig Sonne tanken?
Hier im Pflegeheim nennen mich alle Herr Turin, aber dass mich diese Schwester in der dritten Person anspricht, irritiert mich. Nein, Herr Turin möchte nicht in den Garten gehen, Herr Turin möchte die Natur überhaupt nicht sehen. Herr Turin hasst die Natur. Weil sie grausam ist und ungerecht. Herr Turin muss nur seinen Körper ansehen, um festzustellen, wie grausam die Natur ist. Der Körper eines Fünfundvierzigjährigen, der aussieht wie der Körper eines Fünfundsechzigjährigen, der aber nicht einmal mehr mit einem Fünfundachtzigjährigen Schritt halten kann: Das ist die Natur! Herr Turin braucht keine Sonne, denn Herr Turin nimmt Vitamin D in Tropfenform zu sich. Und Herr Turin wird auch nicht Sonne tanken. Herr Turin wird in der Cafeteria Veltliner tanken. So sieht das Leben aus, zumindest aus der Rollstuhlperspektive.
Es gefällt mir, von mir selbst in der dritten Person zu sprechen. Es klingt fast so, als ginge es um jemand anderen, als hätte jemand anderer Multiple Sklerose, als säße jemand anderer in diesem Rollstuhl, als würde jemand anderer von einem Harnbeutel überallhin begleitet werden, als wäre jemand anderer Insasse dieses Pflegeheims.
Die neue Schwester verlässt Herrn Turins Zimmer. Ihre Brüste sind sehr klein. Fast alle Schwestern auf der MS-Station haben kleine Brüste. Herr Turin nennt es die Waschbrettbrust. Von seiner Frau Irene hat Turin ein Tablet geschenkt bekommen. Aliki hat es zum Aufladen an die Steckdose gehängt. Nun sollte er es endlich in Betrieb nehmen, damit er Irene am Wochenende etwas zu erzählen hat und ihr nicht wieder wortlos gegenübersitzen muss. Irene kommt jeden Samstag und Sonntag.
HERR TURIN: Ich habe auf dem Tablet schon ein Youtube-Video angeschaut.
HERR TURIN: Wir haben eine neue Schwester auf der Station. Sie betont meinen Namen auf der zweiten Silbe.
HERR TURIN: Die alte Ditscheiner sitzt die halbe Nacht im Sozialraum vor dem Fernseher, und weil sie so schlecht hört, dreht sie die Lautstärke voll auf. Auf der ganzen Station muss man sich das anhören.
HERR TURIN: Heute hat Schwester Aliki Dienst. Du weißt doch, die kleine Griechin mit dem Ohrring in der Nase.
All das wird Irene nicht interessieren. Herr Turin liebt das Leben im Heim, sobald er aber Irene davon erzählt, kommt ihm alles lächerlich vor. Irene wird kurz von der Zeitung aufblicken und Herrn Turin zunicken, als hätte sie ihm zugehört.

Mit freundlicher Genehmigung des Jung und Jung Verlags

Daniel Wisser: Königin der Berge. Roman. Jung und Jung, Salzburg 2018. 400 Seiten, 24 Euro. Auch als e-book erhältlich - www.jungundjung.at
Bild: Daniel Wisser/Nurith Wagner-Strauss

 

 

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