Abenteuer im Opawald

LESEPROBE / HELMUT NEUNDLINGER / EINS ZWEI FITTIPALDI

17/07/18 Ohne diesen Hasen käme wohl alles ganz anders. Rasant wie der Rennfahrer Fittipaldi flitzt er durch den Wald und zieht fünf Freunde in den Sog eines Abenteuers. Aus den Augen eines 11-Jährigen schildert Helmut Neundlinger einen Mikrokosmos, in dem Geborgenheit und Bedrohung sich ein fragiles Gleichgewicht halten – und bisweilen muss man sich echt überall zwicken, um nicht laut loszuprusten. – Hier eine Leseprobe.

VON HELMUT NEUNDLINGER

Also es war so: Wir haben nämlich einen Feldhasen gesehen. Und zwar bei der großen Kehre, wo der Forstweg in den Wald mündet. Genau da ist er gesessen, seelenruhig. Leise rennen, habe ich zu den anderen gesagt, der spürt uns über den Boden. Die Hasen sind wie die Indianer, so hat es uns der Opa erklärt, über die Läufe können sie alles fühlen. Aber der Chrissy und der Stofi sind gleich wie die Wilden auf ihn los, komplett ohne Indianergespür. Nur mein Bruder hat sich daran gehalten, und die kleine Schwester vom Stofi auch. Aber der hätte man sagen können: Hüpf in die Luft und bleib stehen, und sie hätte es getan. Wenn sie kleiner sind, machen Mädchen alles, was man ihnen sagt. Fast alles, um genau zu sein. Beim Küssen ist das anders, aber dazu komme ich später noch.

Wie der Chrissy und der Stofi mit vollem Karacho auf ihn zugeschossen sind, ist der Hase Hals über Kopf davongerannt wie der ärgste Formel-1-Fittipaldi. Dem Emerson Fittipaldi haben wir bei jedem Grand-Prix-Rennen die Daumen gedrückt, eigentlich nur wegen seinem lustigen Namen, wo man sich sofort hat denken können: Der ist ein richtig schneller Rennfahrer. Und immer, wenn wir einen Hasen laufen gesehen haben, haben wir gesagt: Schau dir den Fittipaldi an! Das heißt, jetzt haben mein Bruder und ich gar nichts gesagt, sondern uns geärgert, dass die Blutsbrüder wieder einmal sämtliche Indianerregeln über Bord geworfen haben.

Jedenfalls war Staatsfeiertag, und da hat es wie jedes Jahr diese Wanderung gegeben. Kinder, Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel, alle sind wir gemeinsam aufgebrochen, und am Ende waren wir Kinder meistens die ersten am Ziel, weil wir am liebsten gerannt sind bis zum Umfallen. Die Eltern sind oft mitten am Weg oder im Wald stehen geblieben, wo man zuerst nicht gewusst hat: Haben sie vielleicht etwas verloren und suchen danach, weil sie gar so lange auf einem Fleck zusammenstehen. Aber meistens haben sie nur über irgendetwas wahnsinnig Langweiliges geredet, und da hat es eh keinen Sinn gehabt, auf sie zu warten.

Wir sind zwar noch nicht die Allergrößten, aber in der Natur rund um unser Städtchen kennen wir uns tausendmal besser aus als alle Erwachsenen zusammen. Das ist unser Revier, und wenn ich WIR sage, dann meine ich WIR, also neben dem Chrissy und dem Stofi und seiner Schwester eben mich und meinen Zwillingsbruder. Wir haben auch Namen, falls ihr das wissen wollt, ich bin der Lukas und er ist der Markus. Das ist wegen unserer Oma, weil sie an den lieben Gott glaubt wie niemand sonst, und deshalb haben wir Namen, die praktisch direkt aus der Bibel kommen. Außer unserer Oma nennt uns allerdings kein Mensch so, immer nur: die Zwillinge, oder manchmal hinter unserem Rücken: die siamesischen Kater. Aber wehe, wenn wir davon Wind bekommen, dann gibt es wirklich Saures, weil wir sind eben zwei, und da hat niemand auch nur den Funken einer Chance.

Der Wanderweg ist schnurstracks durch den Opawald gegangen. So haben ihn eigentlich nur mein Bruder und ich genannt, weil unser Opa dort früher jagen gegangen ist. Jetzt hängen seine drei Gewehre leider nur mehr im verschlossenen Schrank. Manchmal lässt er uns über die Läufe seiner Büchsen streichen oder durch das Zielfernrohr schauen. Das ist immer blitzsauber, weil der Opa putzt die Gewehre immer noch einmal in der Woche. Natürlich haben wir ihm versprechen müssen, dass wir es den Eltern nicht erzählen. Das müsst ihr verstehen, hat der Opa zu uns gesagt, das ist, weil sie Angst um euch haben und selber nie einen Krieg erlebt haben. Sie wissen gar nicht, wie es ist, wenn man Aug in Aug dem Russen gegenübersteht. Bock ist Bock und Mensch ist halt doch Mensch, hat der Opa gesagt, und der Russe ist durchaus ein Mensch wie wir und kein Vieh. Dann hat er geseufzt, und wir haben gemeinsam mit ihm den Jagdkatalog anschauen dürfen, den ihm die Firma Kettner immer noch einmal im Jahr geschickt hat. Für den Herrn Kettner ist der Opa auf immer und ewig ein Jäger. Den Jäger legst du nie ab, hat der Opa gesagt, das ist ja nicht bloß Schießen, das ist von vorn bis hinten alles, was mit Wald und Natur und Liebe zur Heimat zu tun hat.

Obwohl der Opa schon lang nicht mehr jagen gegangen ist, ist er immer noch jedes Wochenende und bei jedem Wetter durch seine Wälder gestapft. Und da haben wir ihn manchmal begleiten dürfen. Als Jäger musst du dein Revier blind kennen, hat der Opa jedes Mal zu uns gesagt. Dann hat er den Finger auf die Lippen gelegt und geflüstert: Seid still jetzt und schließt die Augen. Und nach einer Weile haben wir die Stimme vom Opa noch eine Spur leiser flüstern gehört: Horcht genau auf alles und atmet durch die Nase! Die Gerüche werden euch leiten, das ist wie beim Indianer. Ein Jäger ist im Grunde nichts anderes als ein weißer Indianer, hat der Opa gesagt, und wir haben stolz geschwiegen, wie echte Blutsbrüder.

Jedenfalls sind wir nach der Hasenflucht ziemlich schnurstracks weitergewandert. Den Weg haben wir ja gekannt, aber gemeinsam mit den anderen Kindern ist es immer irgendwie neu und anders und aufregend gewesen. Plötzlich hat sich der Chrissy vor uns aufgestellt, den rechten Arm wie eine Schranke in die Luft gehalten und geschrien: „Ab hier gelten unsere eigenen Gesetze!“ Auf „Eins zwei Fittipaldi“ sind wir auf ihn zugerannt und haben gejauchzt und gekreischt. Der Chrissy ist so stramm dagestanden wie ein Grenzsoldat beim Eisernen Vorhang und hat recht ernst dreingeschaut. Wir haben gleich die blödesten Grimassen geschnitten, damit er endlich wieder zu lachen anfängt. „Hört auf! Ich meine es ernst!“, hat er geschrien und ist beleidigt weitermarschiert. Also sind wir ihm nach, er war ja unser Blutsbruder.

Mit freundlicher Genehmigung des Müry Salzmann Verlags

Helmut Neundlinger: Eins zwei Fittipaldi. Roman. Müry Salzmann, Salzburg 2018. 128 Seiten, 19 Euro. - http://www.muerysalzmann.at/shop/shop_artikeldetails.asp?str=neundlinger&sf=1&agnr=263
Bild: Müry Salzmann Verlag