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Distelfink und Mammutblatt

BUCHBESPRECHUNG / RANSMAYR / EGAL WOHIN, BABY

31/12/24 Da tanzt ein Grieche auf dem Tisch Sirtaki. Nicht aus erwartbaren Gründen, sondern weil er ein Maler – Künstler, nicht Anstreicher – ist. Er will die Schrittfolgen und Bewegungen des Tänzers studieren, bevor er diesen im Wandgemälde weiter tanzen lässt. Aber was ist in dem roten Packerl am nächtlichen Strand bei Hua Hin?

Von Heidemarie Klabcher

Siebzig Impressionen im Wort. Siebzig Impressionen im Bild. Ein Reise-Foto-Tage-Buch legt Christoph Ransmayr diesmal vor. Der Erzähler ist in diesen Geschichten unter dem Namen „Lorcan“ unterwegs. Ransmayr erklärt das im Vorwort.

Lorcan also erwischt den einsamen Tänzer zwischen Farbtöpfen und Pinselgläsern auf dem Tisch. Er wagt, um nicht zu stören, nicht einmal, um Erlaubnis für den Schnappschuss zu bitten. Erinnert sich später auch nicht mehr an den Namen des Ortes. „Kandanos, Skines, Ano Viannos, Anogia und immer weitere kretische Schauplätze der Grausamkeit, die er damals besucht hatte, Dörfer, deren Namen für Massaker standen, die im Zweiten Weltkrieg von der Deutschen Wehrmacht und der SS an der Zivilbevölkerng verübt worden waren.“ Alexis Sorbas spielt natürlich auch mit: Ein besserwisserischer Australier erklärt Lorcan, der einfache Sirtaki sei am Set erfunden worden, weil Anthony Quinn die Griechischen Volkstänze zu kompliziert gewesen waren. Dafür zeige das monumentale Naturstein-Relief der deutschen Künstlerin Karina Raeck im Schatten des höchsten Berges der Insel einen authentischen kretischen Tanzschritt. Getanzt von einem Partisanen in Erinnerung an die von den Nazis ermordenten Bewohner des Dorfes Anogia.

Zufällig aufgeschnappte „touristische“ oder „pitoreske“ Situationen und Ansichten führen den Weltreisenden und seine Leser immer wieder in bittere Vergangenheiten, aber ebenso oft auch zu befremdlichen, schrägen oder rührenden Pointen. Wie mit dem gütigen Gorilla im Wald zwischen Uganda und dem Kongo. So kurz diese Texte in Seitenzahlen (oft nicht mehr als zwei) auch sind: Der jeweils so knapp wie anschaulich erzählte Moment eröffnet Welten – mittels präziser Beschreibung und immer wieder auch beinah poetischer Sprachmittel. Jeder einzelne der siebzig Mikroromane im neuen Ransmayr ist eine Kostbarkeit der Miniaturenmalerei. Eine Welt in Wort und Bild.

Die Edelstein-Sterne im Haar der Kaiserin Elisabeth! Der Natur nachempfunden vom Hofjuwelier Alexander Emanuel Köchert mit 46 Altschliffdiamanten auf Silber! Sogar die Geschichte des Edelweiß – Leontopdium auf Latein, wie jeder Asterix-Leser weiß – ist laut Lorcan eine kulturelle Vereinnahmung, lag seine Heimat doch in den Steppen Zentralasiens und den Hochtälern Tibets. Dabei sind auch die heimischen Legenden um das Edelweiß wunderschön, besonders die von der jungen Sennerin, die einem Leuchtkäfer ein Ehrengrab auf der Alm bereitet hat... Aber Lorcan sei auf dieser Wanderung auf der Raxalpe nicht an Legenden, sondern an der Blume selbst interessiert gewesen, schreibt Ransmayr. „... er wolle an diesem Tag nur ein Bild, keine Geschichte, nur ein digitales Abbild des Löwenfüßchens, das die Einladung zu seiner Hochzeit schmücken sollte.“ Die wie so oft keineswegs kurzen Sätze Ransmayrs, die doch so wunderbar gut zu lesen sind, führen hier mit Understatement und Umweg in einen außerordentlich „privaten“ Moment. Der Leser fühlt sich geehrt, wie auch in der Geschichte Im Garten des Castlehaven House, dran teilhaben zu dürfen.

Eine Lieblingsgeschichte ist nicht zu benennen. Lieblingsfoto? Vielleicht die eis-benadelten Disteln im Text Distelfinken.

Persönliche Impressionen sind es naturgemäß alle. Erstaunlich dunkel, ebenfalls erstaunlich privat und tief in die Kindheit führend, ist die Geschichte aus der Tiefe der Virgilkapelle unter der U-Bahn-Station Stefansplatz in Wien, aus der Lorcan eines Tages Chorgesang hört. Ein wenig absurd ist die Wendung am Bahnhof in Tokio, als der Weltreisende erstmals Schlafboxen für den Menschen, aber keine Schließfächer fürs Gepäck findet. Und natürlich das Franz-Josefs-Land! Wer will, kann Spuren der „großen“ Romane oder anderer Erzählungen finden, danach zu suchen ist nicht nötig. Die Miniaturen sind vollendete Romane. Mikro halt. Jeder einzelne müsste nacherzählt werden. Ohne den aufmerksamen Nachbarn in der Geschichte Lebensrettung gäbe es sie alle – und auch alles andere von Ransmayr – nicht.

Christoph Ransmayr. Egal wohin, Baby. Siebzig Mikroromane. S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 255 Seiten, 28 Euro – www.fischerverlage.de

 

 

 

 

 

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