Zwischen Nachgeburt und Dorfgerede
BUCHBESPRECHUNG / HELENE ADLER
21/10/20 Die Infantin trägt den Scheitel links. Und auch sonst versucht das Bauernmädchen, das sich selbst zur Prinzessin ernannt hat, sich den Wünschen und Erwartungen der Erwachsenen entgegenzustellen. Ein Kind, das zwischen Selbstmitleid und Selbstermächtigung aufwächst in der morbiden Idylle des österreichischen Dorflebens.
Von Judith Ralser
Klein und dörfisch ist die Idylle, klein und pulsierend zwischen Schrecken und Faszination die Welt der Protagonistin von Helene Adlers Roman Die Infantin trägt den Scheitel links. Fantasievoll und grauenhaft verwandeln sich die Gestalten, werden die Zwillingsschwestern zu Bestien, wird die Mutter zur religionsbesessenen Adlerfrau und der Vater zu Rübezahl. Zwischen dem Flaum getöteter Hundewelpen und der Fürsorge sich prügelnder Eltern wächst ein Mädchen heran, das schwarze Schaf einer noch viel schwärzeren Familie, an der im Dorf kein gutes Haar gelassen wird.
Sie, die Ich-Erzählerin, das jüngste Kind, Liebling des Urgroßvaters, Stein des Anstoßes für die Großmutter, Flamme des Stallbrands. Sie, die sich mit ihren imaginierten Freunden und einem abgeschnittenen Schweinekopf an den immerzu gehässigen, immerzu angsteinflößenden Schwestern rächt. Sie, die ständig drangsaliert wird, ein Mädchen, das die Ratten in der Tenne fürchtet, und sich wünscht, dass es an Gott glauben könnte.
Die morbide Welt, in der die namenlose Protagonistin aufwächst, wird ihr von keinem Menschen leichter gemacht, sie bleibt eine Außenseiterin in der eigenen Familie, ihre besten Freunde sind die Kinderbücher und die Fernsehserien der 80er Jahre. Sie lebt mit den Wolfshunden im Rudel, mit Mistgeruch im Haar und Wanzen im Bett. Die Freundinnen der Jugendzeit sind voll ungebremster Lebenszerstörung, derb, ausschweifend, selbstverletzend: Dinge, denen sich die Protagonistin nie ganz ergibt. Sie wird erwachsen, während in immer weiteren Alterssprüngen Familiengeheimnisse aufgedeckt werden, die weder den Lauf der Dinge ändern, noch Erleichterung bringen, denn der Plot ist kein entscheidendes Element des Romans von Helene Adler.
Vielmehr sind es die Beschreibungen und Betrachtungen des Alltags, in seinen gemeinen Abgründen, die das Buch auszeichnen, viele kleine Gegebenheiten, dicht gewebt und mit der fieberhaften Vorstellungskraft eines jungen Mädchens ausgestaltet.
Die zahlreichen Verweise nicht nur auf Sagen, Sprichwörter und die Bibel, sondern ebenso auf verschiedenste Werke der bildenden Kunst ziehen sich durch den Text. Überschrieben sind die dem Verlauf des Aufwachsens grob folgenden Kapitel mit Gemäldetiteln. Von Bruegel und Beuys bis Pollock zieht sich die Neigung der malereiaffinen Ich-Erzählerin, die sich selbst in diese Bildwelten einschreibt auf ihre Weise.
Helene Adler legte ein rasantes, in sich verflochtenes Werk vor, das sprachlich überzeugt und in seinen Sog zu ziehen vermag. Fabulierlust, so könnte man es nennen, schuf die Fantasie einer Kindheit und Jugend auf dem österreichischen Bergbauernof inmitten einer zahlreichen Sippe. Humorvoll grausam verstrickt darin das zertrümmerte Gemälde einer Bauern-Infantin.