Mord, Macht & Mozart
BUCHBESPRECHUNG / GRILL / DER BEGABTE
09/09/19 Wie konnte es dazu kommen, dass dieses Wunderkind seine geliebte Oma erschlägt? Meisterhaft seziert Evelyn Grill in ihrem Roman die Anatomie eines schrecklichen Verbrechens und führt vor, was Erniedrigung, Unterdrückung und unechte Zuneigung in einem Menschen anrichten können.
VON VERENA RESCH
Der „kleine Mozart“ wird er genannt. Alle im Dorf bewundern ihn für sein Klavierspiel. Sie treten zur Seite, um ihm Platz zu machen, daher weiß er, dass er etwas Besonderes ist. Wenn er in der Kirche auf dem Chor an der Orgel sitzt, fühlt er, dass er jemand ist. Anfangs noch unsicher und unwohl in der Rolle des Bewunderten, gewöhnt er sich schon bald daran und findet, dass sie ihm zusteht, schließlich könnte es gut sein, dass er ein Genie ist.
Doch nun sitzt Wolferl im Gefängnis. Untersuchungshaft. Und weiß dabei gar nicht so recht warum, es muss sich um einen Justizirrtum handeln. Das ist der Ausgangspunkt von Evelyn Grills Roman Der Begabte. Wolfgang hat Angst vor seinen Erinnerungen, die sich jedoch in der einsamen Zelle unweigerlich in sein Bewusstsein drängen.
Schon bald wird die übermächtige Großvaterfigur deutlich, die den Jungen von Kindheit an dominiert und manipuliert. Ein Ehrenmann ist er, der Opa, im Dorf ein hochangesehener Oberschulrat. Alle achten ihn und suchen seine Gesellschaft, vor allem die Frauen mögen den Opa. Nach außen hin wird das Bild der perfekten bürgerlichen Familie geboten, das jedoch schon mit Wolfgang, der als lediges Kind geboren wurde, einen empfindlichen Riss bekam. Bald zeigt sich, was der Opa eigentlich ist, nämlich ein Weiberheld. Immer häufiger kommt es zum Streit zwischen den Großeltern, der oft mit Gewalt endet. Die Oma konfrontiert den Opa mit horrenden Rechnungen von Bordellbesuchen, sogar eine zweite Frau und ein gemeinsames Kind hat der Opa.
Doch von alledem ahnt Wolferl lange nichts, er verdrängt es gekonnt. Erst als er alleine in der Dunkelheit der Gefängniszelle sitzt, kehren diese schmerzhaften Erinnerungen zurück. Zunächst wehrt er sich dagegen, hat er doch große Angst vor dem, was sich in seinem Unterbewusstsein verbirgt. Er kann und will nicht wahrhaben, was er eigentlich schon längst weiß: Dass der Opa zwei Gesichter hat, wie eine Maske. Ein freundliches und ein eiskaltes. Und dass er sich nie sicher sein konnte, welches nun das echte war.
Die Gerichtspsychologen bestätigen schließlich, was der Leser schon längst ahnt: Dass zwar Wolferls musikalische Begabung ausgereift ist, geistig jedoch erst die Reife eines 12-Jährigen hat. Was um ihn geschieht, versteht er nicht, ebenso wenig wie die Konsequenzen seines Handelns und Tun.
Schicht für Schicht legt Evelyn Grill die Erinnerungen Wolfgangs frei und zeigt, wie Machtmissbrauch, Manipulation und die Sehnsucht nach Anerkennung dazu führen können, dass ein junger Mann nicht aufschreit, wenn es heißt „Die Oma muss weg.“