Ist ein stärkerer Kontrast denkbar zwischen den Graphik-designten CNN-Nachrichtenstudio und jener Welt in und um Paradise Village, einem somalischen Dorf, dessen Wellblechhütten seinem Namen fast Hohn sprechen? Nach den ersten zwei Film-Minuten geht es jedenfalls aus der Welt abstrakter News (konkret über einen durch Drohnen verursachten Todesfall) in die reale Welt im somalischen Irgendwo, wo tatsächlich Drohnen über die Köpfe der Bewohner fliegen. Und eben nicht nur über sie. Ein härterer Schnitt zwischen berichteter und erlebter Realität ist nicht denkbar.
Dort, in der somalischen Wirklichkeit, schlagen wir sogleich hart auf. So hart wie der ausgetrocknete Boden, in den Mamargade längliche Gruben gräbt. Er ist – unter anderem – Totengräber. Weil es die prekäre Lage erfordert, betätigt er sich auch als Fahrer. Die als Gemüse- oder Viehtransporte getarnten Fuhren dienen dem Transport von Waffen. Mamargade weiß, ahnt zumindest, für was für zwielichtige Auftraggeber er arbeitet.
Aber das wird nicht das Thema des Films sein, macht nur den Alltag fest, in dem eine außergewöhnliche Familie ihr mehr als karges Auskommen suchen muss. Mamargarde ist alleinerziehender Vater. Die Schule im Dorf, die sein Sohn Cigaal besucht, wird geschlossen. Cigaal kommt ins Internat in einer nahen Stadt. Wie man das finanzieren soll, ist fortan die wichtigste Frage. Nicht minder drängend ist die Geldfrage für Mamargades Schwester Araweelo, die in der gleichen Ein-Raum-Wohnung lebt. Sie ist geschieden und versucht, als Schneiderin eine neue Existenz aufzubauen.
Viel mehr Zustandsbericht als Handlung. Wortkarg gehen die drei Protagonisten miteinander um. Es scheint anfangs, dass diese Leute im Überlebenskampf auch die Gefühle füreinander verloren haben. Dass dem absolut nicht so ist, bildet den eigentlichen Inhalt. The Village Next to Paradise lebt davon, dass der Regisseur (er ist als Siebzehnjähriger aus dem Senegal nach Wien gekommen) mit präzisem Blick auf das Wesentliche und ganz ohne Effekthascherei Lebenssituationen übermittelt, die für Europäer nicht wirklich vorstellbar sind. Klar gebaute Szenen vermitteln soziale Realitäten, vermutlich ohne Übertreibung, soweit man das als mitteleuropäischer Betrachter beurteilen kann.
Meist blickt man den Hauptdarstellern direkt in die Gesichter. Sehr verdient hat Kameramann Mostafa El Kasheef den Diagonale-Preis für Bildgestaltung erhalten. Die Jury: „Klare, aufgeräumte Bilder, die wissen, was sie zeigen und was sie auslassen: kleine Gesten der Zuneigung, Bündel von Geldscheinen, politischer Protest, ein Meer, das flach dahin schwappt, und der Wind, der immer wieder neue Figuren durch die offene Blechtür in die Hütte bläst. Diese Kamera weiß, wann sie Abstand nimmt und wann sie den Figuren nahekommt.“
Auch von einer sich entwickelnden „behutsamen Wucht“ sprach die Diagonale-Jury. Und davon, dass sich „en passant andere gesellschaftliche Zusammenhänge“ erschließen, „die sich im Verhältnis der Figuren etwa zu Geld, zu Schulden oder zur Gerichtsbarkeit niederschlagen“.
Das alles passiert beinah unterschwellig. Die zweieinviertel Stunden vergehen für den mitteleuropäischen Betrachter deshalb so rasch, weil Mo Harawe eben über die Menschen in seinem Herkunftsland so viel weiß, über ihre Wertvorstellungen, ihre (Über)-Lebensweisen, ihr Denken und ihre Emotionen. Nach und nach werden die Beziehungen zwischen den Figuren aufgedröselt. Es ist ein Umgang voller Liebe und Achtung. Entsprechend subtil beschreibt das der Regisseur, wohl wissend, dass er mit diesem Film auch Erwartungen und Vorurteile seitens der europäischen Wahrnehmung korrigieren muss. Das geschieht ohne Vorwurf.
Und der politische Anspruch? Damit ist nicht gemeint, dass man mit mehr Wissen um den Bürgerkrieg in Somalia aus dem Kino ginge. Aber wenn man wieder einmal aus dem Off den Lärm der Drohnen wahrnimmt, wird rasch klar, wie die latente Bedrohung unmittelbar das Leben, Denken und Handeln der Menschen mitformt.