Im mystischen Wald der Freiheit
FILMKRITIK / ALL WE IMAGINE AS LIGHT
30/12/24 Viele Filme, die im heurigen Kinojahrgang ihre Spuren hinterlassen haben, setzten auf laute und mitunter schrille Gesten – man denke etwa an Megalopolis, The Substance, Anora, Emilia Pérez oder die österreichische Produktion Veni Vidi Vici. Nicht so All We Imagine as Light.
Von Andreas Öttl
Die Welt ist so aus den Fugen geraten, dass man sie nur mehr über Extreme erzählen kann – so das Argument vieler Filmemacher. Dass es auch anders geht, beweist eindrucksvoll die indische Regisseurin Payal Kapadia mit ihrem wunderbaren, von der internationalen Kritik bereits seit seiner Cannes-Premiere im Mai hochgelobten Spielfilmdebüt. All We Imagine as Light zählt zählt zweifellos zu den schönsten Filmen des heurigen Kinojahres. Ein die Sinne ansprechender Film wie dieser, der die Magie im Alltag findet und die kleinen Momente betont, ohne gesellschaftliche Aspekte außer Acht zu lassen, ist ein wahres Geschenk und imstande, das Vertrauen ins Kino wiederherzustellen.
Erzählt wird eine Geschichte von weiblicher Solidarität. Die Krankenschwestern Phraba und Anu teilen sich eine Wohnung in Mumbai. Während sich Phraba von ihrem Mann getrennt hat, ist Anu gerade frisch verliebt. Als Phraba eines Tages ein unerwartetes Geschenk von ihrem Ex-Mann bekommt, gerät der Alltag der Frauen-WG durcheinander. Bei einem gemeinsamen Ausflug ans Meer entdecken die beiden einen mystischen Wald. Dieser besondere Ort wird zu einem Raum der Freiheit, an dem die beiden Frauen ihre geheimen Träume ausleben können.
All we Imagine as Light begibt sich zwar zunächst auf das Terrain eines Sozialdramas und Großstadtporträts, verlässt dieses aber bald zugunsten einer Ebene, die sich solchen Kategorisierungen entzieht. Es ist ein in sich ruhender, visuell in vielen Momenten betörender Film, der seine Kraft und Magie erst schleichend entfaltet. Payal Kapadia zeigt eine außergewöhnliche Sensibilität sowohl für ihre Figuren als auch für gesellschaftliche Themen. Das Persönliche und das Gesellschaftliche sind miteinander verwoben, dennoch ist für die cinephile Regisseurin, die etwa Miguel Gomes, Claire Denis und Agnès Varda zu ihren Vorbildern zählt, die filmische Form mindestens ebenso wichtig wie das (offenkundig) Politische. Es ist ihr erster Spielfilm, aber die junge Regisseurin scheint bereits ungeschriebene Lektionen des Filmemachens verinnerlicht zu haben, die viele etablierte Filmemacher ein Leben lang nicht lernen. Einige davon: Filme brauchen Menschen mehr als Geschichten. Landschaften transportieren ebenfalls Emotionen. Die kleinen Details des Lebens sind mindestens ebenso wichtig als die großen Momente.
Kino darf selbstverständlich auch Eskapismus sein – so wie es das für die Figuren des Films in einer in einem Lichtspielhaus spielenden Szene auch ist. All we Imagine as Light aber ist auch das Gegenteil davon: Es ist ein Film, der uns mit der Welt und den Menschen verbindet – so wie es in dieser Form nur Kino kann. Der Film beginnt in der – den einzelnen Menschen nicht registrierenden – Anonymität der Megametropole Mumbai und endet in der Intimität einer kleinen Hütte am Meer. Spätestens mit dem Einsetzen der hypnotischen Abspannmusik endet er für den Zuseher an jenem mythischen Ort, wo das Licht des Filmprojektors Hoffnung geben kann und die Bilder und Töne auf der Leinwand gelegentlich immer noch in der Lage sind, ein rational nicht erklärbares Glücksgefühl zu liefern.
Derzeit zu sehen im Salzburger Filmkulturzentrum „Das Kino“ – www.daskino.at
Bilder: Polyfilm