Über Nacht in einer anderen Welt

GASTKOMMENTAR

Von Franz Mayrhofer

09/12/20 Was ein Partikel, kleiner als ein kleinstes Sandkorn, vermag: Die Weltgesellschaft über Nacht in eine andere Welt zu versetzen.

Da der Mensch alles beherrschen will, was Leiden verursacht, und dies auch mit beachtlichem Erfolg betreibt, wird ein Stillstand in der Corona-Pandemie auf hohem Niveau schon als Rückschlag angesehen. Und ein Wiederaufflammen gilt bereits als Niederlage. Täglich nachzulesen, zu hören und zu sehen.

Der Mensch sei nahe daran, sich selbst mit seinen technischen Machtmitteln zu verwechseln. So sah es in den ersten Zweitausender-Jahren der deutsche Psychiater Horst-Eberhard Richter. Damals speziell mit der wachsenden Herrschaft über die Gene; der Mensch wächst in eine nicht vorstellbare Schöpferrolle hinein. Das Ich, das Individuum, ist gewachsen, ähnlich wie in der Renaissance. Die technische Nutzung seines Wissens hat ihn zu etwas werden lassen, was Sigmund Freud schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts einen „Prothesengott“ nannte. Der Mensch mutiert dabei vom Glied einer Gesellschaft zu einem Zahnrad der „Kollektiv-Maschine“ (Richter). Dass dabei das Leben, die Beziehung von Mensch zu Mensch, verloren zu gehen drohte (oder schon verloren ging), verschaffte ihm eine Vereinzelung, in der persönliche Beziehungen verdorrten oder in Brüche gingen.

Dies ist eine der großen Gefährdungen in der gegenwärtigen Situation. Das allgemeine Bewußtsein ist in eine Krise geraten, die die Gesellschaft zweiteilt: In jene, die als „Prothesengötter“ das Heft des Handelns in der Hand behalten wollen, ohne sich zu vergewissern, ob es nicht auch Gruppen gäbe, deren Sachverstand und Praxis diese Bedrohung besser in den Griff bekommen könnten. Und die anderen, die sich dem Diktat der ersten Gruppe beugen müssen, weil sie keine Möglichkeit und keine Macht haben, in aller Sachlichkeit zuerst zu analysieren und dann erst zu entscheiden.

Im konkreten Fall sind das einerseits die Regierung und die ihr Zugeneigten, Freunde, die sich als Einflüsterer und Zahlenjongleure verdingen und zum Machterhalt beitragen. Andererseits sind es jene, die das alles schweigend hinnehmen müssen. Sie haben allerdings in den Jahren der Bombardierungen, der Not, des Zusammenbruchs und Wiederaufbaus ein gesellschaftliches Ethos gezeigt, das heute jenen, denen keine Bomben um die Ohren flogen, die von keinen Tieffliegern verletzt wurden, keinen Vater, Gatten, Bruder im Krieg verloren, keinen Verwandten mit den Händen aus dem Schutt ausgruben, vollkommmen fremd ist.

Natürlich ist es angenehm und bequem, in einer liberalen Demokratie zu leben, in der die Minimalgrundrechte auf Leben, Nahrung, Wohnung Kleidung, Gesundheit, Arbeit und Bildung erreichbar sind, wenn auch oft nur unter großen Anstrengungen. Glücklicherweise hat sich das Rad der Zeit gedreht, Forschung und Wissen haben in aller Technikverliebtheit dazu eines übersehen: dass der „Übermensch“ eines Friedrich Nietzsche mit der Vorstellung von „Gott ist tot“ im Verein mit dem Nihilismus einen Tsunami der Beliebigkeit über die Menschen hinweggejagt hat. Doch ohne ein gemeinsames Ethos, ohne einen verpflichtenden Wertekatalog auch für die Politiker, wird es eine Gesellschaft von Bestand kaum geben können.

Während der Corona-Krise haben bewundernswerte Ansätze etwa in der Nachbarschaftshilfe in kleiner und kleinster Form vorgemacht, wie eine Gesellschaft, die in die Einzelindividuen zerfallen ist, wieder zusammenfinden kann. Das war in der ersten Phase der Seuche ein unerwartet positives Zeichen. Das aufzunehmen, zu festigen, zu loben, wäre eine Aufgabe der Politik geswesen. Den einen oder anderen Berufsstand wie eine Katze beiläufig zu streicheln, ist allerdings zu wenig.

Die zweite Phase nun zeigt eine geballte Unzufriedenheit in der Gesellschaft, weil mit der Stop-and-go-Methode von Hoffnung machen, Angst verbreiten, Hoffnung machen, Angst verbreiten, jeder Funke der Kooperationsbereitschaft erlischt. Dass in diesem Fall der Verdacht auf unangemessenes Autoritätsverhalten sich sehr deutlich artikuliert, sich mit gefährlichem Ignorieren der eigenen Sicherheit verbindet und zu manchesmal anarchischem Denken führt, sollte niemanden verwundern.

Es bleibt eine Hoffnung, die in diesen Zeiten des Umbruchs aufrecht zu erhalten wäre: Dass das Setzen auf die kleine Gemeinschaft, auf den Kontakt von Mensch zu Mensch, zum Ziel führt, weil die vom Volk in demokratischer Wahl dafür Beauftragten irgendwann (aber nicht am Nimmerleinstag) womöglich zur Einsicht kämen, dass jeder Tag für jeden Einzelnen von uns kostbar ist, um mit seinem Partner, seiner Familie, mit Freunden zusammen zu sein.

Noch aber bleibt nur die Situationsbeschreibung: Über Nacht sind wir in einer anderen Welt gelandet.

Der Salzburger Wissenschaftsjournalist Prof. Franz Mayrhofer, Jahrgang 1937, wurde 1994 mit dem René-Marcic-Preis ausgezeichnet. Er ist Salzburg-Präsident des P.E.N.-Clubs.
Bild: Stadt Salzburg