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Es ist das Leben, sonst nichts

IM WORTLAUT / HASLAUER

25/07/21 Unter das Thema Erwachen hat Landeshauptmann Wilfried Haslauer seine Begrüßungsrede zur Eröffnung der Festspiele gestellt und dafür mehrere literarische Anknüpfungspunkte gefunden. Die Rede im Wortlaut, leicht gekürzt.

Von Wilfried Haslauer

Die heutige feierliche Eröffnung der Salzburger Festspiele ist wie ein Erwachen aus einem Albtraum, der in einer Endlosschleife an Wiederholungen unentrinnbar wie zentnerschwere Last auf einem liegt, bis man erschöpft und zugleich befreit dem Morgen entgegenzugleiten hofft.

Erwachen

Was für ein Geschenk, die Künstlerinnen und Künstler wieder erleben zu dürfen, Sie, liebes Publikum, zu sehen und endlich Anderes zu vernehmen, als die Expertise der von uns an und für sich so geschätzten Virologen.

Verliert sich das Trauma der überwunden geglaubten Pandemie schemenhaft wie der Traum eines schweren Schlafes oder bringt diese Erfahrung Erkenntnisgewinn? Was wird Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen, an den virtuellen Lagerfeuern, an denen die großen Mythen dereinst erzählt werden, von dieser viralen Zeit und ihren Folgen berichten? Lassen Sie mich dieser Frage unter Zuhilfenahme der Werke von vier Schriftstellern nachgehen.

Über das Glück

Hermann Hesse befasst sich 72-jährig in seiner Betrachtung Über das Glück mit einer Episode aus seiner Kindheit, nämlich dem Erwachen aus sanftem Schlaf mit dem Gefühl des Einsseins mit der Welt, der völligen Gegenwärtigkeit, der Freiheit von Zeit, Hoffnung und Furcht und eines Gefühles von Freude und Wohlsein, das aus Nichts als aus dem Zusammenspiel der Dinge um ihn herum bestand. Dieses nur wenige Augenblicke anhaltende Gefühl der Ewigkeit erfuhr seine Steigerung in der Musik einer vorbeimarschierenden Musikkapelle, als wäre alles Glück für ein Kinderherz in deren Töne zusammengeflossen. Doch die Überhöhung des Eigentlichen, nämlich des zerbrechlich Schönen des Morgenzaubers, durch eben diese Musik hat die Einmaligkeit des Augenblicks zugleich gebrochen und hinter dem kleinen Wunder schlugen die Wellen der Zeit, der Welt und der Gewöhnlichkeit zusammen.

Wird sich auch unser Glück bei den abendlichen Premieren verlaufen, wenn die letzten Töne der Alpensymphonie verklingen, der schurkenhafte König Richard III. heute Abend und dann noch weitere sechsmal sein verdientes Ende findet oder wenn in Mozarts Don Giovanni der steinerne Gast den sündigen Unhold erdrückt? Wird all das Herausragende der so heiß herbeiersehnten Kunst sich wieder im Niemandsland unserer Konsumationsgeschwindigkeit verlieren?

Blindheit

Blindheit greift gleich einer Epidemie um sich, und zwar in José Saramagos Roman Die Stadt der Blinden. Die Erblindeten werden in einer leerstehenden Nervenklinik interniert, wo sie sich selbst überlassen sind. Faszinierend wird der Überlebenswille, die Tragödie, die Grausamkeit, aber auch die menschliche Größe, die Not, die unfreiwillige Komik, das Sterben und der Wille zum Leben, zum Leben als Mensch mit Würde geschildert. Doch genauso plötzlich wie die Blindheit die Stadt geschlagen hat, kommt das Sehen zurück. „Ich sehe, ich kann sehen!“, was für ein Aufschrei, was für eine Erlösung, was für ein unglaubliches Geschenk von etwas, das wir – solange wir es uneingeschränkt haben – als nicht der Rede wert empfinden. „Ich glaube nicht, dass wir erblindet sind, ich glaube, wir sind blind, Blinde, die sehen, Blinde, die sehend nicht sehen“, meint der Arzt, der mit seiner Frau im Mittelpunkt des Romans steht.

Sind wir in der Pandemie sehend geworden und erblinden dann wieder, sehen zwar, nehmen

aber einander nicht mehr wahr und erfahren nach der Demaskierung die Gleichgültigkeit

austauschbarer versteinerter Gesichter?

Die Scham

Der Protagonist in Patrick Süskinds Erzählung Das Parfum kreiert ein Parfum mit einer so stark erotisierenden Wirkung, dass tausende Menschen in wilder Begierde übereinander herfallen, egal welchen Alters, ob bekannt oder fremd: in einer Massenextase wird die Lust, das Begehren, der Trieb ausgelebt, seinem Höhepunkt und seiner Ermattung zugeführt. Nach einer Weile stehen alle auf und gehen mit gesenktem Blick; sie können einander nicht mehr ins Auge sehen und das Gefühl an Scham wird nur noch vom Drang übertroffen, diese unfassbare tierische Entgleisung zu verdrängen und auch zu verleugnen.

Wie verhält es sich mit Erwachen und Scham? Können wir nach allem einander noch ins Auge blicken, verdrängen wir die Perfidie der Unterstellungen und auch die Kluft zwischen den vermeintlich Anständigen und den Rücksichtslosen, den tiefen Spalt in unserer Gesellschaft? Stehen wir also einfach auf und reden nicht mehr darüber, tun so, als ob nichts gewesen wäre?

Die Pest ist das Leben

Auf Albert Camus und sein Buch Die Pest kann heute nicht verzichtet werden. Wir begegnen vertrauten Charakteren: den beharrlichen Leugnern, den Zornigen. Aber auch den Nachdenklichen, den Sehnsüchtigen, denen, die trotzdem „Ja“ zum Leben sagen, vor allem aber den schmerzlich voneinander Getrennten.

Die Hauptfigur ist der Arzt Dr. Rieux, und er sagt Bemerkenswertes: „Was heißt das schon, die Pest? Es ist das Leben, sonst nichts. Die Menschen vergessen und bleiben sich immer gleich. Aber das ist auch ihre Kraft und ihre Unschuld! Nur in den Heimsuchungen kann man lernen, dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt. Und dass es nicht darauf ankommt, ob die Dinge einen Sinn haben, sondern welche Antwort der Hoffnung den Menschen erteilt wird.“ Dr. Rieux macht inmitten des Wütens der Pest weiter, unbeirrbar, betreut Kranke, tröstet Verzweifelnde und Sterbende. „Bei all dem“ sagt er „handelt es sich nicht um Heldentum. Es handelt sich um Anstand. Die einzige Art, gegen die Pest anzukämpfen ist der Anstand. In meinem Fall weiß ich, dass er darin besteht, meinen Beruf auszuüben.“

Also: Wieviel Kraft und Unschuld haben wir noch? Welche Hoffnung abseits gefüllter Schaufenster, geöffneter Restaurants und von Urlaubsreisen ist in uns? Ist das Maß an Bewunderung anderer größer als die Verachtung?

Vor 101 Jahren

Vor 101 Jahren wurden die Salzburger Festspiele gegründet: ein bewegtes Jahrhundert mit allen Fortschritten, Verwerfungen, Errungenschaften und Niederlagen. Für mich ist das Faszinierende aber nicht das – etwas weihrauchlastige – Jubiläum, sondern es sind die Umstände, in denen die Festspiele gegründet wurden: Nach einem verlorenen Krieg mit unendlichem Leid wütete in unserem ausgebluteten, armen Land, das entsetzlich an Hunger litt, zudem die Spanische Grippe und holte reichhaltig Opfer aus einer ausgemergelten Bevölkerung. Das Land war in politischen Auseinandersetzungen zerrissen, mit einer Republik, die so eigentlich niemand wollte. All dies war nicht wirklich der ideale Nährboden dafür, Festspiele zu gründen. Dennoch gelang es!

Wenn auch die Zeit heute sich nicht mit der von damals vergleichen lässt, so ist doch eine Frage legitim: Welche großen Entwürfe schreiben wir heute? Haben wir noch den gesellschaftlichen, politischen, künstlerischen, sozialen Mut über Alltagstreit und nächste Wahltermine hinaus weit zu denken?

Anstand

Ich habe viele Fragen gestellt und keine beantwortet. Es sind die Salzburger Festspiele, die uns bei der Suche nach den Antworten helfen. „Die ewige Aufgabe der Kunst ist es, die Vergangenheit in Mythen und die Zukunft in Visionen gegenwärtig zu machen“, schreibt Patrik J. Deneen. Genau dies wird Jahr für Jahr bei den Salzburger Festspielen neu verhandelt.

Heute wollen wir uns der neu gewonnenen Freiheit erfreuen. Wir wollen dabei nicht vergessen und verdrängen, vielmehr unsere Hoffnungen leben, an unsere Kraft glauben und an unserer Unschuld arbeiten. Das Wissen darum, dass es an uns Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt, lässt uns ertragen, dass wir dem Schicksalshaften oft unergründlich ausgesetzt sind. Und wenn wir blind waren, so seien wir sehend, wenn wir saturiert waren, so seien wir bewusst, wenn wir einsam waren, so mögen wir wieder Gemeinschaft erfahren, und wenn wir Abstand gefordert haben, dann lassen Sie uns daraus Anstand machen.

Darum bitte ich Sie gerade heute in besonderem Maße! Wie heißt es doch bei Camus: „Es ist das Leben, sonst nichts.“

Bild: Land Salzburg / Neumayr - Leopold

 

 

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