Das Liebespaar und die lieben Schreckfiguren

GALERIE WELZ / MARC CHAGALL

27/08/15 Sie haben die Disney'schen Figuren, die Zeichentrick gewordenen gotischen Fassadenfiguren von Notre-Dame vor Augen, wie sie mit Ironie die Hauptstory kommentieren? Ein bisserl so ist es auch mit Marc Chagall, wenn er „Die Gestalten von Notre-Dame“ lithographiert.

Von Reinhard Kriechbaum

„Derrière le miroir“ – hinter dem Spiegel – heißt ein druckgraphischer Zyklus von Marc Chagall aus dem Jahr 1954. Was kann man entdecken hinter dem Spiegel, was verbirgt sich hinter Chagalls Erzählwelten? Eine Ausstellung wie jene in der Galerie Welz ist geeignet, uns hinter die Chiffren schauen zu lassen.

Da ist also dieses Blatt mit besagten Figuren von der Kirchenfassade: Wie ein Hippo aus der Bankwerbung schaut das nette grüne Fabelwesen aus, das überdimensional groß auf einem der beiden Kirchtürme steht. Der rote Vogel daneben streckt seinen Schnabel keck in die Lüfte, hinauf zum Mond. Neben diesem schwebt im Himmel – im siebenten Himmel? – ein Liebespaar. Dieses schwebende Paar, das in vielen der figurenreichen Bildgeschichten von Chagall vorkommt, symbolisiere ihn selbst und seine Frau Bella, kann man im erhellenden Katalogtext von Gerbert Frodl lesen. Ist man einmal auf dieser Fährte, dann wird man sich vielleicht auch auf die um neunzig Grad verdrehte orthodoxe Kirche, die links ins Bild ragt, einen Reim machen. Durch Chagalls Arbeiten geistern ja immer Erinnerungen an die russisch/jüdische Kultur. Witebsk hat ihn in diesem Sinne nie losgelassen. Der Fisch – so Gerbert Frodl – stehe für den Vater, der in einer Fischfabrik gearbeitet hat. Für den Geigenspieler sei sein Onkel der Erinnerung Pate gestanden.

Solche Linien fallen in einer Schau wie dieser schon deshalb auf, weil hier wirklich ein Werk über die Jahrzehnte erstaunlich vielgestaltig und ohne inhaltliche Lücken dokumentiert ist. Von 1922 stammt das älteste Blatt, eine Kaltnadelradierung aus dem Zyklus „Mein Leben“: Mutter und Sohn, sie hält ihn gleichsam am Krawattl, oder fasst sie ihn wie eine Puppe an? Jedenfalls wird es wohl auch eine Erinnerung des Künstlers (1887-1985) sein. Wahrscheinlich eine positive, wie so vieles aus dem heimatlichen Stedl, das Chagall im Lauf seines fast hundertjährigen Lebens nicht aus dem Kopf bekam.

Der Maler an der Staffelei, über dem ein Engel schwebt und dem selbst schon so etwas wie Engelsflügel gewachsen sind: „Dem Licht zu“ heißt die Farblithographie aus dem Todesjahr von Chagall, die auf transzendentes Sinnen hinweist.

Blätter aus den prominenten Zyklen – aus dem Alten Testament ebenso wie vom Zirkus – sind da, ein Konvolut von Blumenbildern aus den siebziger Jahren, natürlich die charakteristisch karikaturhaften Radierungen zur Gogols „Die toten Seelen“ (1948) und nicht minder berühmte Illustrationen zu Fabeln von LaFontaine. Also ein umfassendes Panorama vom ganzen Chagall. Und das beste: Wenn auch die Festspielausstellung demnächst aus ist, so ist sie dennoch nicht zu Ende. Das Material ist nämlich so reichhaltig, dass sich im kommenden Monat noch locker eine Präsentation im ersten Stock der Galerie ausgeht.

Die Festspielausstellung „Marc Chagall“ ist noch bis 30. August geöffnet. Danach werden weitere druckgraphische Arbeiten im ersten Stock gezeigt (bis 10. Oktober), parallel zur Schau Martin Praska (9.9.-10.10.) - www.galerie-welz.at
Bilder: Galerie Welz